Wildgewordenes Urgestein

Wie kam es zu den Karrieren der Piratinnen Anne Bonny und Mary Read?

Befriedigung steckt in diesem Blick, ein dreckiges kleines Lächeln überzieht die dunkelrot geschminkten, vollen Lippen. Sie ist das, was man eine schöne Frau nennt. Sinnlich, herausfordernd und stark. Sie ist die Königin der Piraten.

Soeben hat Anne Providence ihrer Mannschaft den Befehl erteilt, den englischen Kapitän des gerade gekaperten Schiffes gefesselt über Bord zu werfen. Genüsslich beobachtet sie den Mord an ihrem Feind. Dunkle Locken umspielen ihr Gesicht, das blutbefleckte Hemd steckt in der langen Hose, mit einer Hand umfasst sie den Säbelgriff. Sie wendet sich von den johlenden Männern ab und geht in hohen Stiefeln mit ausgreifendem Schritt in ihre Kabine. „Jetzt kann die Bande wieder bei Rum und den Weibern sitzen“, sagt sie mit dunkler Stimme.

Jean Peters spielt in dem 1951 in Hollywood gedrehten Spielfilm Anne of the Indies (deutsch: Die Piratenkönigin) die Piratin Anne Providence.

Die Geschichte des Streifens ist schnell erzählt: Schauplatz ist die karibische Inselwelt des frühen 18. Jahrhunderts. Die Piraterie hat in diesem Gebiet ihren Höhepunkt erreicht, mit größter Regelmäßigkeit werden die Schiffe der Kolonialmächte ausgeraubt und versenkt. Anne und ihr Gefolge sind so gefürchtet, dass die Engländer sie beseitigen wollen und einen französischen Spion auf sie ansetzen.

Pierre ist höflich, charmant, aber falsch. Die in der Liebe zu Männern völlig unerfahrene Anne lässt sich verführen von Blicken, die der Lügner „an- und ausknipst“, lässt sich verführen von einem einzigen Kuss. Innerhalb weniger Stunden verwandelt sich die klar denkende Frau in ein blauäugiges Weibchen, das dem geliebten Mann zart „Pierre, gib acht“ ins Ohr säuselt. Anne überhört die Warnrufe der Kumpane und verrät ihren ältesten Freund, den berüchtigten Piraten Blackbeard, der daraufhin zu ihrem größten Widersacher wird.

Nachdem sie Pierres Betrug erkannt hat – er ist glücklich verheiratet mit einer reizenden, sanften Frau, die traurig auf ihn im Hafen wartet – greift sie zu härtesten Mitteln. Sie entführt das blasse Geschöpf samt Ehemann und setzt die beiden auf einer schattenlosen Insel aus. „Ich habe euch schöne Flitterwochen ausgedacht. Sie werden aber nicht lange dauern. Die besten Dinge des Lebens sind kurz, aber schön“, sagt sie lakonisch.

Annes Rache endet bitter. Als sie, geplagt von schlechtem Gewissen, die beiden aus deren misslicher Lage befreien will, trifft sie auf Blackbeards Schiff, provoziert einen Kampf und verliert ihr Leben.

Man kann ihren Tod bedauern, er ist aber in sich schlüssig. Hinter der Lust auf Filme mit starken, herzlosen Protagonistinnen stecke oft, so heißt es, die Lust auf Sex mit einer dominanten Frau. Filme wie Anne of the Indies bedienen sich der masochistischen Gefühle der Zuschauer. Damit deren Innenleben nicht gänzlich aus dem Lot gerät, muss die dominante Frau den Leinwandtod sterben, immer.

Anne Providence ist jedoch nicht nur eine Filmfigur. Anne existierte tatsächlich, und sie war schon zu Lebzeiten eine Berühmtheit. Nicht dunkelhaarig und zierlich, wie im Film, soll sie gewesen sein, sondern groß und kräftig, mit grünen Augen und wildem rotem Haar. Wichtigste Quelle der Rekonstruktion ist Daniel Defoes „Allgemeine Geschichte der Piraten“. Defoe, Autor von „Robinson Crusoe“ und gleichzeitig Gerichtsreporter und Erforscher der Zeitgeschichte, veröffentlichte das Buch 1724 unter Pseudonym. Es genießt heute den Status einer abgesicherten historischen Dokumentation; die manchmal recht eigenwillig eingestreuten Kommentare lassen aber verschiedene Interpretationen zu. Defoe griff für seine Arbeit auf Gerichtsakten und Zeugenaussagen der sogenannten „Piratenprozesse“ zurück. Zwei Figuren beeindruckten ihn besonders: Anne Bonny und Mary Read. Die Geschichte beider Frauen beginnt in Europa, ihr Ende findet sie in der Karibik.

Irland im Jahr 1700: ein Anwalt und seine Frau, ein Dienstmädchen und ein uneheliches Kind. Keine besonders ungewöhnliche Sache in Cork. Ungewöhnlich und skandalös aber ist, dass der Anwalt William Cormac für die ledige Mutter und die gemeinsame Tochter Anne sorgt.

Das Kind ist sieben Jahre alt, als sich die „Familie“ gezwungen sieht, Irland zu verlassen. Charleston in South Carolina ist das Ziel. Der Mann hat Geld und kaufmännisches Geschick, wird Plantagenbesitzer und somit ein angesehener Bürger. Er verwöhnt die Kleine, sie reitet, hat einen eigenen Sklaven, lernt von einem Indianer den Umgang mit Messern. Das Kind ist klug, außergewöhnlich hübsch, aber zu wild. Sie treibt sich am Hafen mit den Jungen herum und lernt zu kämpfen. Defoe schreibt über Gerüchte, die sich um das rothaarige Mädchen ranken: „so beispielsweise, dass sie einmal eine englische Dienstmagd mit einem Tafelmesser getötet habe, als sie auf das Haus ihres Vaters aufpasste. Aber ich fand heraus, dass diese Geschichte jeder Grundlage entbehrte“.

Anne hat viel Ärger und will irgendwann nur noch eines: weg. Sie heiratet blutjung und völlig überstürzt den Matrosen James Bonny und segelt mit ihm nach New Providence auf den Bahamas. New Providence gilt als Ort der Verfolgten und Ausgestoßenen und wird immer wieder als „blühende homosexuelle Gemeinde“ beschrieben. Dort lernt Anne den eleganten Piraten John Rackham kennen, von dem gesagt wird, „er sei als Geliebter eines Kapitäns über den Atlantik gekommen und der Favorit vieler Offiziere der königlichen englischen Marine gewesen“. Rackham ist Steuermann auf Pierre Vanes Schiff.

Vane, von manchen Autoren auch „Pierre, der schwule Pirat“ genannt, ist bekannt für seine Vorliebe für erlesene Kleider aus Samt und Seide. Klischee oder Wahrheit – es sei dahingestellt.

Anne auf alle Fälle findet Gefallen an der Truppe, verlässt kurzerhand James Bonny und schließt sich Rackham und Vane an. Zu dritt terrorisieren sie überaus erfolgreich den karibischen Raum.

Zur gleichen Zeit treibt sich auf diesen Gewässern eine andere Frau herum: Mary Read. Sie ist ein paar Jahre älter als Anne, ebenfalls Engländerin, ebenfalls unehelich geboren. Ihre Mutter zieht sie als Jungen groß, aus Mary wird Mark. Unzufrieden mit ihrem Los, sich als „Page“ in der Londoner Gesellschaft verdingen zu müssen, verlässt sie die Stadt und mustert auf einem Kriegsschiff an. Bald schon desertiert Mary und wechselt zur flandrischen Infanterie, wo sie, wie Defoe schreibt „als Kadett in einem Infanterieregiment Waffen schleppte“. Sie kann trotz „großer Tapferkeit“ kein Offizierspatent erlangen, „da diese im allgemeinen käuflich erworben und veräußert werden“. Daher geht sie zur Kavallerie. Dort verliebt sie sich in einen Kadetten, legt ihre Männerkleider ab und eröffnet mit ihm in Breda die Gaststätte „Drei Hufeisen“. Das Glück währt nicht lange, mit 20 ist sie Witwe. Mary tut, was sie gelernt hat: Sie holt ihre Männerkleidung aus dem Schrank, heuert auf einem holländischen Handelsschiff an – und wechselt die Fronten: Die Holländer werden vor den Bermudas von englischen Piraten überfallen, und Mary schließt sich ihnen an. Ab jetzt ist sie Piratin.

In New Providence kommt sie – immer noch als Mark Read – auf das Schiff von Anne und Rackham, die sich in der Zwischenzeit von Pierre Vane getrennt haben. Die Geschichte gewinnt hier an Brisanz und bringt einige Autoren völlig aus der Fassung: Anne verliebt sich in Mary.

Die beiden Frauen und Rackham segeln fortan kapernd durch die Karibik, sind berüchtigt und gefürchtet, bald schon ein eingespieltes Team. Der ehemals so gewandte Rackham verfällt zusehends dem Opium und dem Rum. Anne und Mary übernehmen das Kommando und überlassen ihn seinen Räuschen. Der Kapitän des überfallenen Schiffes „Elizabeth“ schildert die Zustände an Bord: „Erst, als wir schon die Erlaubnis zur Weiterfahrt bekommen hatten, erschien jener berüchtigte Kapitän Rackham auf Deck. In seinem bunten Aufzug ist er tatsächlich eine heroische Erscheinung, aber er sah aus, als wäre er gerade erst aus dem Bett gekrochen. Er hatte verquollene Augen, seine Stimme klang verwaschen. Als seine verruchte Kumpanin ihm befahl, aus dem Weg zu gehen, verdrückte er sich.“ Und über Anne sagte 1720 der Pirat John Harper: „Sie hatte das Zeug zur Anführerin und hätte uns dazu anstacheln können, der ganzen Welt den Kampf anzusagen.“


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mare No. 7

No. 7April / Mai 1998

Von Zora del Buono

Zora del Buono, Jahrgang 1962, ist diplomierte Architektin und Filmarchitektin. Sie ist mare-Kulturredakteurin und lebt in Berlin.

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Vita Zora del Buono, Jahrgang 1962, ist diplomierte Architektin und Filmarchitektin. Sie ist mare-Kulturredakteurin und lebt in Berlin.
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