Wie Amerika begann

Die Überfahrt der „Mayflower“ war ein Abenteuer mit vielen Opfern. Mit ihrer Ankunft 1620 in Plymouth begann zwar nicht die ökonomische, aber die ideelle Kolonialisierung Nordamerikas

Die Sonne ist verschwunden, und die Sterne sind verschwunden, seit Tagen jagen nur graue Wolken über den Himmel. Es tobt ein Sturm aus West, von da, wo ihr Ziel liegt. Sie treiben beigedreht, den Bug in den Wind gerichtet, die Segel festgezurrt. Ein Korken auf dem aufgepeitschten Atlantik.

Ihr Schiff ist die „Mayflower“, ein Dreimaster, 30 Meter lang, neun Meter breit, ein typischer Frachter seiner Zeit. Am Hauptmast flattert der Union Jack, die Flagge, die der König wenige Jahre zuvor eingeführt hat. Auf dem Zwischendeck drängen sich 102 Passagiere aus England. Darunter auch die „Pilgrims“, jene Menschen, die sich „Heilige“ nennen, „Gottes Auserwählte“.
66 Tage und 66 Nächte werden sie mit der „Mayflower“ von Cornwall nach Neuengland unterwegs sein, doppelt so lange, wie 130 Jahre zuvor Christoph Kolumbus für die Überquerung des Atlantiks benötigte. Lange nach Ankunft wird William Bradford, längst Gouverneur der Kolonie in Plymouth, die Chronik der Gründerjahre veröffentlichen. Als Muster seines Narrativs wählt der belesene Siedler die Exodusgeschichte der Bibel, wie Buchautor Nick Bunker in seinem penibel recherchierten „Making Haste from Babylon“ nachzeichnet. Bradford stellt in „Of Plymouth Plantation“ seine Gemeinde in die Tradition des israelitischen Volkes, das einst Ägypten verließ, Wüste und Wildnis durchquerte, um das gelobte Land Kanaan zu erreichen. Einen Gründungsmythos erzählt er, kein Abenteurergarn, und ganze 700 Wörter gönnt Bradford der Überfahrt selbst.

Ein junger Mann wird im Sturm über Bord geschleudert, bekommt, schon unter Wasser, eine Leine zu fassen, klammert sich fest, wird gerettet, ein Wunder. Bradford nennt es „ein außergewöhnliches Zeichen von Gottes Fürsorge“. John Howland wird noch 53 Jahre lang leben, zehn Kinder zeugen, 88 Enkel haben.

Ein 15-jähriger Diener stirbt kurz vor der Ankunft, völlig entkräftet. Eine Frau gebärt einen Jungen unter Deck, er ist gesund, sie nennt ihn Oceanus. Der Bootsmann, verantwortlich für Crew und Passagiere, verhöhnt die Seekranken, verflucht sie, verkündet, er werde bald ihre Leichname über die Reling werfen, bis er selbst plötzlich erkrankt, unter Qualen stirbt und über die Reling geworfen wird.

In Zeiten innigen Glaubens und ebenso innigen Aberglaubens vermag solche Ereignisse jeder zu deuten. Vor allem die Initiatoren der Reise verstehen sie als Zeichen, denn ihr Leben haben sie der Suche nach den Zeichen Gottes gewidmet. Sie verstehen sich als Pilgrims, Wallfahrer. „Pilgerväter“ sagen die Deutschen bis heute dazu, als wären an Bord keine Frauen und Kinder gewesen.

Im Jahr 1620 ist die Welt in Aufruhr. Ideen und Ideologien verbreiten sich dank des Buchdrucks schneller denn je. William Shakespeare ist seit vier Jahren tot, Galileo Galilei lebt noch, im Herzen Europas ist ein Glaubenskrieg ausgebrochen, von dem man eines Tages als Dreißigjährigem Krieg sprechen wird.

Nordamerika beflügelt die Fantasien der Politiker, Glücksritter und Händler. Spanier siedeln im heutigen Florida, Niederländer liebäugeln mit dem heutigen New York, englische Fischer werfen ihre Netze vor Neufundland aus. Und auch englische Kolonien existieren seit ein paar Jahren an der Ostküste, Jamestown in Virginia etwa, 1607 gegründet, ein Ort, an dem Angst vor Malaria und Indianerüberfällen herrscht. In „Nova Britannia“ allerdings, einer Neuerscheinung von 1609, wird das neue Land als paradiesisch geschildert. Längst kursieren Karten der Küste.
In Europa schlagen derweil Katholiken Protestanten die Köpfe ein und umgekehrt. Noch spricht niemand von „Aufklärung“. Frauen werden als Hexen verbrannt. Endzeitstimmung. Die Volkswirtschaften taumeln in die Hyperinflation, auch der englische Königshof ist chronisch klamm. Auf dessen Thron sitzt ein Schotte, James I., ein Hypochonder und notorischer Trinker.


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mare No. 121

No. 121April / Mai 2017

Von Rüdiger Barth

Rüdiger Barth, Jahrgang 1972, Autor in Hamburg, staunte bei der Recherche, wie komplex die historischen Hintergründe der „Mayflower“-Geschichte sind – und auf welch moderne Art Wirtschaft, Politik, Religion und Abenteurertum ineinander verwoben waren.

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Vita Rüdiger Barth, Jahrgang 1972, Autor in Hamburg, staunte bei der Recherche, wie komplex die historischen Hintergründe der „Mayflower“-Geschichte sind – und auf welch moderne Art Wirtschaft, Politik, Religion und Abenteurertum ineinander verwoben waren.
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Vita Rüdiger Barth, Jahrgang 1972, Autor in Hamburg, staunte bei der Recherche, wie komplex die historischen Hintergründe der „Mayflower“-Geschichte sind – und auf welch moderne Art Wirtschaft, Politik, Religion und Abenteurertum ineinander verwoben waren.
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