Wetterberichte

Im Radio sagen sie Regen voraus. Die Leute kaufen Gummistiefel. Das Tief zieht nicht weiter. Das Wasser steigt

Mai

Das Wasser steigt. Im Radio haben sie weitere Regenfälle angekündigt. Im Kaufhof gibt es schon lange keine Gummistiefel mehr. Wenn es so weitergeht, wird es eine Katastrophe, besonders für die Landwirtschaft, das haben sie gesagt. Uns stört das Wetter nicht, im Gegenteil. Angeblich ist Regenwasser gut für die Haut. Grete steht stundenlang am Fenster, streckt ihr Kinn hinaus und bietet ihr Gesicht den Tropfen an. Hoffentlich stürzt sie nicht ab.

10. Mai

Gestern haben wir alle Weinflaschen nach oben gebracht. Es war anstrengend. Im Keller steht das Wasser schon kniehoch. Frau Tietz behauptet, dass sie eine Ratte gesehen hat, aber wir denken, dass es eine Ausrede war. Wir haben keine Ratte gesehen und die Schlepperei allein erledigt. Dafür hat sie uns Gläser mit eingemachten Birnen geschenkt und zwei Dosen Schokoladensoße von Hershey, so haben wir zum Nachtisch Birne Helene gegessen. Grete hat versucht, das Ganze mit Calvados zu flambieren, das klappte nicht richtig, hat aber trotzdem gut geschmeckt. Das Fernsehen funktioniert nicht mehr, das liegt
an dem unterirdischen Kabelanschluss, der jetzt unter Wasser steht. Wir haben uns vorgenommen, die alte Antenne auf dem Dach zu richten. Das Tief über dem Atlantik soll in den nächsten Tagen weiterziehen.

1. Juni

Es stimmt, dass es Ratten gibt. Seit die Keller voller Wasser sind, haben wir sie öfter im Erdgeschoss gesehen. Sie können gut schwimmen. Frau Tietz regt sich nicht mehr über sie auf, auch nicht darüber, dass ihr Vorrat an eingemachten Birnen weg ist. Der Calvados auch. Obwohl es seit einer Woche nicht mehr regnet, gibt es Pläne für eine Evakuierung. Zuerst sollen die Kinder weggebracht werden. Uns ist nicht klar, wohin man sie bringen will, deswegen möchten wir, dass sie zu Hause bei uns bleiben. Nathan hat angefangen, ein kleines Floß zu bauen. Wenn es fertig ist, möchte er eine Ratte zähmen und ihr das Paddeln beibringen. Die Fernsehantenne auf dem Dach ist gerichtet, aber wir empfangen leider nur noch ein Programm. Wir wissen nicht, ob es an der Antenne liegt oder ob die anderen Sender unter Wasser stehen. Gott sei Dank ist nicht die ARD übrig geblieben, sondern ein Privatsender, mit viel Werbung und Spielen und Filmen und Sportübertragungen. Gestern haben wir die Olympischen Spiele von 1984 in Los Angeles angeschaut. Es war spannend. Als Carl Lewis gewonnen hat, haben wir vor Freude geschrien. Aber an der Kleidung der Leute sah man, dass es schon ziemlich weit zurückliegt. Die Leute haben sich damals seltsam angezogen. Ob die Nachrichten, die wir empfangen, aktuell sind, wissen wir nicht. Seit es keine Zeitungen mehr gibt, haben wir keine Vergleichsmöglichkeit. Nur der Wetterbericht stimmt fast immer. Für morgen sind 28 Grad angekündigt.

29. Juni

Wir dachten, es sei schon der 4. Juli, aber wir haben uns wohl geirrt. Im Fernsehen in der rechten Ecke oben steht eindeutig 29. Juni. Die müssen es wissen. Das Haus ist still geworden, seitdem sie die Kinder abgeholt haben. Nathan hat sich wie ein Teufel gewehrt, aber sie haben ihn doch mitgenommen. Wir haben in seine Reisetasche die gezähmte Ratte und das Floß heimlich eingepackt, man weiß nie, wofür es gut ist. Vielleicht kann er uns seine neue Adresse von der Ratte überbringen lassen. Ratten sind auf alle Fälle viel klüger als Tauben, davon sind wir alle überzeugt. Es gibt sowieso fast keine Tauben mehr, weil sie besser als Ratten schmecken, die haben wir zuerst gegessen. Nach drei Tagen wusste Nathans Ratte, dass sie jetzt Moses heißt. Sie hat sich auch von uns streicheln lassen. Aber geschlafen hat sie nur bei Nathan, in seiner Achselhöhle. Grete ist bei uns geblieben. Sie hat über ihr Alter gelogen, sonst hätten sie sie auch mitgenommen. Als der Bus mit den Kindern weg war, hat sie sich in ihrem Zimmer eingesperrt und geweint. Jetzt kann keiner mehr wegfahren, die Straßen sind total überflutet, und das Wasser steigt immer noch.

29. Juni noch einmal

Wir sind sicher, dass einige Tage vergangen sind, nur wie viel, das wissen wir nicht. Im Fernsehen hat sich das Datum nicht geändert. Auch die Uhrzeit bleibt stehen. Etwas ist wahrscheinlich kaputt. Frau Tietz hatte eine gute Idee: Wir sollten Einkerbungen im Treppengeländer machen, um den Überblick über die vergehende Zeit zu behalten. Wir haben heute damit angefangen. Die erste Einkerbung mussten wir 29. Juni nennen, obwohl wir annehmen, dass es eher Ende Juli ist. Es regnet wieder. Das Erdgeschoss ist geräumt worden. Wir haben die Schränke zerlegt und alles Holz nach oben gebracht. Leider haben wir keine Ahnung von Schiffbau. Wir wissen nicht, wie wir die Bretter biegen könnten. In Nathans Buch des Wissens sind die Erklärungen nicht ausführlich genug. Unser erster Versuch, das Holz mit Feuer aufzuwärmen, hat nur dazu geführt, dass die Wohnung voller Rauch war, und der Teppich hat seitdem größere Brandflecken.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 32. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 32

No. 32Juni / Juli 2002

Eine Kurzgeschichte von Fabienne Pakleppa

Die Schweizer Schriftstellerin Fabienne Pakleppa, Jahrgang 1950, lebt in München. Ihr Band mit erotischen Kurzgeschichten Mein unverschämter Liebhaber erschien im Heyne Verlag. Drei weitere Romane sind vergriffen.

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Vita Die Schweizer Schriftstellerin Fabienne Pakleppa, Jahrgang 1950, lebt in München. Ihr Band mit erotischen Kurzgeschichten Mein unverschämter Liebhaber erschien im Heyne Verlag. Drei weitere Romane sind vergriffen.
Person Eine Kurzgeschichte von Fabienne Pakleppa
Vita Die Schweizer Schriftstellerin Fabienne Pakleppa, Jahrgang 1950, lebt in München. Ihr Band mit erotischen Kurzgeschichten Mein unverschämter Liebhaber erschien im Heyne Verlag. Drei weitere Romane sind vergriffen.
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