Was ist eine Schildkröte wert?

Selten klingt der Mensch so scheinheilig wie in seiner Forderung nach dem Erhalt der Arten. Denn er schützt nur, was ihm nützt

Als die ersten Europäer die Neue Welt erkundeten, staunten sie noch über die vielen Meeresschildkröten im Atlantik und in der Karibik. Heute stehen die Meeresschildkröten am Rande der Ausrottung.

Vor allem um den internationalen Handel mit Meeresschildkröten einzudämmen, wurde Anfang der siebziger Jahre das Washingtoner Artenschutzabkommen geschlossen. Es führt alle sieben Arten von Meeresschildkröten im Anhang I. Dieser verleiht den Tieren den höchsten Schutzstatus und verbietet die grenzüberschreitende Ein- und Ausfuhr von Fleisch, Eiern sowie Produkten aus Schildplatt wie Kämme, Knöpfe oder Brillen.

Die US-Regierung will nun den internationalen Handel mit gefährdeten Tieren wieder erleichtern. Die Nachfrage nach exotischen Tieren, nach Fellen und Trophäen ist groß. Schon jetzt werden weltweit mit wild lebenden Tieren - und auch Pflanzen - jährlich rund 200 Milliarden Dollar umgesetzt. Mit dem Töten, Fangen und Verkauf bedrohter Tiere sollen künftig vor allem arme Länder die finanziellen Mittel erwirtschaften, um Maßnahmen zum Erhalt bedrohter Arten durchführen zu können: Sie müssen sterben, um zu überleben. Diese Argumentation klingt nach einer Perversion des Artenschutzgedankens.

Grundsätzlich stellt sich die Frage, bis zu welchem Punkt der Artenschutz als Rechtfertigung für politisches und wirtschaftliches Handeln dienen kann. Konflikte drohen vor allem dann, wenn der Schutz gefährdeter Tiere und Pflanzen auf Kosten der Menschen vor Ort durchgesetzt werden soll. Angesichts einer Weltbevölkerung von mehr als sechs Milliarden Menschen scheint ein Überleben ohne Ausbeutung anderer Arten auf Dauer kaum möglich zu sein. In manchen Ländern der Dritten Welt sind Meeresschildkröten ein Grundnahrungsmittel: In Kuba und Costa Rica, auf Java und Bali gelten sie immer noch als billiger Eiweißlieferant und sind ein wichtiges Grundnahrungsmittel. Die Inuit in Alaska und das Volk der Tschuktschen in Sibirien sind auf die Jagd von Walen angewiesen. Dürfen ihre Interessen langfristig dem Schutz bedrohter Arten untergeordnet werden?

Auf den ersten Blick gibt es eigentlich keinen Grund, eine Art zu schützen - zumindest keinen wissenschaftlichen. Schätzungsweise 99 Prozent aller Arten, die jemals auf der Erde gelebt haben, sind wieder ausgestorben. Das Verschwinden von Schildkröten oder Walen bliebe wahrscheinlich ohne Folgen für die Meere. Ohne Panda oder Tiger bräche kein Ökosystem zusammen. Das oft beschworene ökologische Gleichgewicht ist ein menschliches Konstrukt und suggeriert, es gebe einen anzustrebenden Idealzustand. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung von der Natur als statischem Gebilde.

Die Natur aber verändert sich ständig. Unnatürlich ist heute allenfalls das Tempo der Veränderung, mit der Lebensräume zerstört und Arten vernichtet werden. Und da beginnt die Verantwortung des Menschen. Sie ist ethisch-moralisch begründet und folgt einem intuitiven, tief sitzenden Widerstreben, eine Art unwiederbringlich der Ausrottung zu überlassen. Die Religionen mahnen zum Erhalt der Schöpfung und berufen sich auf Schönheit und Einmaligkeit einer jeden Art. In der Präambel zum "Übereinkommen über die biologische Vielfalt", 1992 auf dem Erdgipfel in Rio de Janeiro formuliert, erkennen die Vertragsparteien einen Eigenwert der Arten an und verweisen auf die "ökologischen, genetischen, sozialen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, erzieherischen, kulturellen, ästhetischen Werte sowie den Freizeitwert".


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mare No. 41

No. 41Dezember 2003 / Januar 2004

Ein Essay von Claudia Ehrenstein

Claudia Ehrenstein, Jahrgang 1961, studierte Geologie in Hamburg. Ihre ersten Artikel schrieb sie Mitte der achtziger Jahre über Goldsucher in der Oberpfalz und die frühen Umweltsünden der Menschheit. Sie ist heute Politik-Redakteurin bei der Berliner Tageszeitung Die Welt. Zu ihren Themen gehören Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz. Immer wieder zieht es sie aus der Hauptstadt ans Meer. In Kanada und Südafrika hat sie schon Wale beobachtet. Von der Begegnung mit einer Meeresschildkröte träumt sie noch.

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Vita Claudia Ehrenstein, Jahrgang 1961, studierte Geologie in Hamburg. Ihre ersten Artikel schrieb sie Mitte der achtziger Jahre über Goldsucher in der Oberpfalz und die frühen Umweltsünden der Menschheit. Sie ist heute Politik-Redakteurin bei der Berliner Tageszeitung Die Welt. Zu ihren Themen gehören Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz. Immer wieder zieht es sie aus der Hauptstadt ans Meer. In Kanada und Südafrika hat sie schon Wale beobachtet. Von der Begegnung mit einer Meeresschildkröte träumt sie noch.
Person Ein Essay von Claudia Ehrenstein
Vita Claudia Ehrenstein, Jahrgang 1961, studierte Geologie in Hamburg. Ihre ersten Artikel schrieb sie Mitte der achtziger Jahre über Goldsucher in der Oberpfalz und die frühen Umweltsünden der Menschheit. Sie ist heute Politik-Redakteurin bei der Berliner Tageszeitung Die Welt. Zu ihren Themen gehören Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz. Immer wieder zieht es sie aus der Hauptstadt ans Meer. In Kanada und Südafrika hat sie schon Wale beobachtet. Von der Begegnung mit einer Meeresschildkröte träumt sie noch.
Person Ein Essay von Claudia Ehrenstein