Walross im Visier

Der Großwildjäger liebt den Koloss und schießt ihn dennoch. Denn er tötet gern. Die Jagd, sagt er, ist wie eine Droge

Der Himmel ist blau, als Oskar stirbt. Das Thermometer zeigt 15 Grad unter null. Mit einem alten Fischkutter sind sie in das Gebiet der Walrösser gefahren, dorthin, wo die Wassertiefe nur 40 Meter beträgt, irgendwo an der Westküste Grönlands. Ein Mann steht immer mit dem Fernglas im Mastkorb, um die Tiere im Packeis zu suchen: dunkle Klumpen auf weißen Schollen. Auf einer Eisscholle liegt Oskar.

Noch bevor sie in dem schaukelnden Beiboot auf Schussdistanz sind, flüchten die Walrösser ins Meer. Die Männer verfolgen Oskar, im glasklaren Wasser sind seine Umrisse gut zu erkennen. In dem Moment, in dem das Walross auftaucht, um Luft zu holen, zeigt es den Jägern seinen Rücken. Mit 900 Metern pro Sekunde schlägt das erste Geschoss in den Tierkörper ein. Es zerstört Oskars Lunge. Das Walross schwimmt weiter, der zweite Schuss geht wieder in die Lunge, beim dritten Auftauchen durchbohrt die Harpunenspitze seine Haut. Doch noch lebt Oskar. Der letzte Schuss trifft ihn ins Gehirn. „Batsch, bumm, tot!“, sagt Roger Joos.

Roger Joos, Schweizer, Orchideenliebhaber, Dudelsackspieler und ehemaliger Vizemeister im Fliegengewichtsboxen, hat ein Walross erlegt. Joos ist 1,59 Meter groß, 60 Kilogramm schwer, sein Freund nennt ihn den „kleinsten Großwildjäger“, den er kenne. Das Walross ist ein Koloss, knapp eine Tonne wiegt es. Es hat ordentliche Hauer, „nicht solche Zahnstocher“. Es ist eine gute Trophäe. In Gedenken an seinen in Alaska verschollenen Onkel nennt Joos das tote Tier Oskar. Der Walrosskopf hängt heute in seinem Schlafzimmer. Den Gesichtsausdruck, findet Joos, hat der Präparator gut getroffen. Die Falten seien hervorragend gemacht.

Wo immer Joos hingeht, Glasaugen starren ihn an. Im Arbeitszimmer hängt an der rechten Wand Schwein, an der linken Antilope. Das wirkt übersichtlicher, ordentlicher, logischer als ein wilder Mix der Tierarten, hat sich der gelernte Mechaniker überlegt. Überm Faxgerät also Nabel-, daneben Warzen- und Wildschwein; Busch- und Riesenwaldschwein fehlen noch. Im Gästezimmer Büffelkopf und das Fell einer gefleckten Hyäne, in der Stube Zebra über dem Sofa und ein ganzer Leopard als Blickfang, im Schlafzimmer Bärenfell, weißes Dallschaf, Puma, Kojote, Schneeziege, Steinbock, Moschusochse und natürlich Oskar, das Walross. Außerdem besitzt Joos noch eine Reihe Schädel, vom Krokodil zum Beispiel oder vom Wolf, und die Gehörngalerie der Rehböcke. Ansonsten lebt er allein in der Wohnung. Eine ältere Dame hat ihn einmal gefragt, ob die toten Tiere keine schlechte Atmosphäre geben würden, wegen Feng-Shui und so. Er habe nicht das Gefühl, ein Problem zu haben, hat er geantwortet.

Angefangen hat es mit Tauben und Spatzen. Da war er 13 und freute sich über sein Luftgewehr. Mit 15 absolvierte er den Jungschützenkurs, mit 25 ging er zum ersten Mal jagen. Den Jagdinstinkt, glaubt Joos, hat man oder hat man nicht. In seiner Familie hatten ihn sein Onkel und der Bruder seines Großvaters. „Also irgendwo habe ich dieses verdammte Gen schon her.“ Bis heute hat der 42-Jährige an die 400 Stück Wild erlegt, darunter auch manches für die Küche. Schneehase, schön langsam geschmort: köstlich. Oder rohe Robbenleber: ein Gedicht. Auch Nilpferd ist lecker. Nur Walross schmeckt wie „alter Reifen“, zäh, tranig, fettig.

Sein Gehalt und seinen Jahresurlaub investiert Roger Joos in die Jagd. Zu Hause in Uster, einer Kleinstadt 15 Kilometer von Zürich entfernt, am „idyllischen Greifensee“ gelegen, wie es im Prospekt heißt, arbeitet Joos als Betriebstechniker. Kalkulation, Produktionsplanung, Optimierung von Abläufen, Arbeitszeit von 6.45 bis 16.00 Uhr, Mittagspause eine Dreiviertelstunde – das ist das eine Leben. Kirgisien, Kanada, Burkina Faso, Botswana, Grönland das andere. In seiner Firma redet man über Analysegeräte und Reaktionsgefäße, das Unternehmen macht Anlagenbau für die chemische Industrie. Auf der Pirsch redet man darüber, wie warm der Fladen ist und wohin die Fährte geht. Oder wie damals der Grizzly dem einen das Gesicht zerbissen oder der Büffel dem anderen die Bauchdecke aufgeschlitzt hat. Joos sagt, er habe zwei Freundeskreise: die „Normalen“, die er vom Segeltörn und vom Militärdienst kenne, und die Jäger.


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mare No. 44

No. 44Juni / Juli 2004

Von Sandra Schulz und Stefan Pielow

Die Autorin Sandra Schulz entwickelt sich zur Spezialistin für Tierhäute: In mare No. 41 erzählte sie die Kulturgeschichte des Schildpatts.

Fotograf Stefan Pielow war verwundert, wie kenntnisreich Joos das Schießen betreibt. Ausführlich erläuterte der Jäger ihm, wie man einen Todesschuss platziert. Richtig gemacht, „weiß das Tier bis heute nicht, dass es überhaupt gestorben ist“.

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Vita Die Autorin Sandra Schulz entwickelt sich zur Spezialistin für Tierhäute: In mare No. 41 erzählte sie die Kulturgeschichte des Schildpatts.

Fotograf Stefan Pielow war verwundert, wie kenntnisreich Joos das Schießen betreibt. Ausführlich erläuterte der Jäger ihm, wie man einen Todesschuss platziert. Richtig gemacht, „weiß das Tier bis heute nicht, dass es überhaupt gestorben ist“.
Person Von Sandra Schulz und Stefan Pielow
Vita Die Autorin Sandra Schulz entwickelt sich zur Spezialistin für Tierhäute: In mare No. 41 erzählte sie die Kulturgeschichte des Schildpatts.

Fotograf Stefan Pielow war verwundert, wie kenntnisreich Joos das Schießen betreibt. Ausführlich erläuterte der Jäger ihm, wie man einen Todesschuss platziert. Richtig gemacht, „weiß das Tier bis heute nicht, dass es überhaupt gestorben ist“.
Person Von Sandra Schulz und Stefan Pielow
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