Vielleicht, vielleicht

Holland lässt im Zweiten Weltkrieg in seiner Kolonie Niederländisch- Indien deutsche Zivilisten per Schiff außer Landes schaffen. Die folgende Tragödie, zu der die Haager Regierung bis heute schweigt, hat die Enkelin eines Opfers untersucht

In den 1930er-Jahren war Hollandia in Niederländisch-Neuguinea, das heutige Jayapura, eine Ansammlung von Bambus­hüt­ten, gedeckt mit Palmgras. Aber immerhin gab es ein gepflastertes Stück Straße, eine Kirche, eine Schule, ein Krankenhaus, ein Gefängnis und einen Laden. Die holländische Kolo­nialmacht in Gestalt des gezaghebbers und seiner malaiischen Beamten verfügte über ein Steinhaus, im Lauf der Jahre wurden es ein paar mehr. Der Hafen dieses Außenpostens von Niederländisch-Indien war so flach, dass der Frachter der Königlichen Paketfahrtgesellschaft, der einmal im Monat mit Post und Waren aus Makassar kam, in der Humboldtbai ankern musste.

Die „Van Imhoff“, 2980 Bruttoregistertonnen, bot Platz für je 28 Passagiere der ersten und zweiten Klasse, 1329 Deckspassagiere, 500 Stück Vieh. Alles, was die Provinz Hollandia brauchte und exportierte, ging durch ihren Bauch. Ihre Ankunft war jedes Mal ein Ereignis. Das ganze Städtchen samt Umgebung paddelte, segelte, tucker­te aufs Meer hinaus, den Rudergesang hörte man bis in die Berge.

Der Kapitän empfing die Weißen – Beamte, Pflanzer, Händler, Missionare – an Bord, und für Stunden wurde das Schiff zu Postamt, Handelskontor und Bank – und zur Bar, denn der Kapitän ließ europäische Leckereien servieren, vor allem flüssige. Während die jongens, papuanische und ambonesische Arbeiter, Kisten, Säcke und Pakete verluden, besprach man in der Messe neueste Gerüchte und Nachrichten, zählte Geld, hakte Listen ab, unterschrieb Papiere. Verladen wurden Kakao, Kokos und, trotz des Verbots, Paradiesvogelbälge. Entladen wurden Papier und Tuche, Sämereien, Chemikalien und Medikamente, Salz und Tabak, Waffen, Munition und Näh­nadeln, Beile, Messer, Schulhefte – und einmal auch ein Harmonium für einen Missionar namens Georg Schneider, der eine Tagesreise entfernt mit seiner Familie im Dschungel lebte, am Sentanisee.

Er war gläubig und abenteuerlustig, er beherrschte mehrere Papuasprachen, sang und jagte gerne und hielt Hitler für einen großen Mann, der dem armen, gedemütigten Deutschland seinen Stolz zurückgeben würde. Seine Frau war da anderer Meinung. Aber beide waren von ihrem göttlichen Auftrag erfüllt: den Papua das Evangelium und die Grundlagen europäischer Zivilisation nahezubringen.

Und so predigte er, mit Pferd, Gewehr und Bibel unterwegs von einem Dschungeldorf zum anderen, den Frieden Gottes, „welcher höher ist denn alle Vernunft“. Daran glaubte er. Er war mein Großvater.

Er starb am 19. Januar 1942 im Pazifischen Ozean vor der Küste Sumatras, 58 Seemeilen entfernt von der Insel Nias, auf 0,10 Grad südlicher Breite und 97,10 Grad östlicher Länge. Vermutlich, niemand weiß es genau. Sicher ist, dass an dieser Stelle die „Van Imhoff“, auf der er viele Jahre lang jeden Monat Gast und Kunde gewesen war, gegen sechs Uhr abends sank, gerade, als die Sonne unterging.

Ob mein Großvater zu diesem Zeitpunkt noch an Bord war, werden wir nie erfahren. Vielleicht war er unter denen, die von Bord sprangen und sich schwimmend zu retten versuchten, sich an einem improvisierten Floß festhielten. Möglich ist, dass er sich überhaupt nicht zu retten versuchte. Vielleicht hat er einfach auf den Tod gewartet oder auf die Rettung in letzter Minute, im Vertrauen auf seinen Gott. Vielleicht hat ein ganzer Kreis Gläubiger zusammengesessen und gebetet, während sich die „Van Imhoff“ mit Wasser füllte. Vielleicht haben sie auch das Deutschlandlied gesungen. Sie waren deutsche Zivilgefangene der Holländer, auf dem Weg von Sumatra nach Ceylon, Britisch-Indien.

Die Nachricht vom Beginn des Zweiten Weltkriegs erreichte meine Großeltern über die neue Funkstation von Hollandia. Damals gab es in der kleinen Kolonie nicht wenige, die mit den Deutschen sympathisierten. Das Mutterland war neutral, aber hier betrachteten viele seit je die Briten als unliebsame Konkurrenz.

An einem der nächsten Schiffstage nahm mein Großvater ein Radio und einen Generator in Empfang. Von da an hörte er auf Kurzwelle die neuesten Nachrichten aus Berlin, manchmal auch den HJ-Chor mit „neuen Volksliedern, die wir nicht kennen“, wie er an seine Kinder schrieb, die in Deutschland zur Schule gingen.

Zunächst ging das Leben am Sentanisee weiter wie bisher. Die „Van Imhoff“ kam regelmäßig, die Holländer und die wenigen Deutschen arbeiteten, aßen und beteten zusammen. Bis zum 10. Mai 1940, als Batavia an die Funkstationen Niederländisch-Indiens den Code für den Ernstfall durchgab: „Berlijn“. Deutschland hatte die Niederlande überfallen, nun herrschte Krieg. Alle Deutschen in der Kolonie waren sofort zu internieren. Die Namenslisten waren lange vorbereitet; darauf standen auch Einheimische mit deutschen Vätern, Holländer deutscher Herkunft und solche, die der nationalsozialistischen Partei NSB angehörten.


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mare No. 118

No. 118Oktober / November 2016

Von Katharina Döbler

Katharina Döbler, Autorin in Berlin, schreibt für Le Monde diplomatique, ZEIT und Rundfunk. 2010 erschien ihr Roman Die Stille nach dem Gesang.

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Vita Katharina Döbler, Autorin in Berlin, schreibt für Le Monde diplomatique, ZEIT und Rundfunk. 2010 erschien ihr Roman Die Stille nach dem Gesang.
Person Von Katharina Döbler
Vita Katharina Döbler, Autorin in Berlin, schreibt für Le Monde diplomatique, ZEIT und Rundfunk. 2010 erschien ihr Roman Die Stille nach dem Gesang.
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