Für Abertausende von Lebenskünstlern, Rentnern und Hedonisten ist das Überwintern auf den Balearen heute eine Selbstverständlichkeit. Wer sich hingegen mehr als anderthalb Jahrhunderte früher dem seinerzeit gänzlich unbekannten Mallorca aus freien Stücken näherte, konnte eigentlich nur von naivem Abenteuergeist beseelt sein und eine solche Pioniertat aufgrund reiner Unkenntnis wagen. Beides traf auf Frédéric Chopin, den polnischen Klaviervirtuosen, Wahlfranzosen und vielversprechenden jungen Komponisten, und George Sand, die streitbare, emanzipierte Literatin und vielleicht am meisten unterschätzte Romancière ihrer Zeit, zu.
Vom südwestfranzösischen Perpignan aus schiffte sich das ungleiche Paar in den ersten Novembertagen des Jahres 1838 in Richtung Palma ein. Ganz Paris hatte sich bereits seit den Sommermonaten, als ihre Liebesaffäre offenkundig geworden war, das Maul über die außergewöhnliche Liaison zerrissen. Und so wurden die ebenfalls prominenten Daheimgebliebenen in zahllosen Briefen über den Fortgang ihrer Unternehmungen unterrichtet. Zunächst ließ sich alles gut an. Besonders das mythische Mittelmeer hatte es ihnen angetan, auf Anhieb. Der Steuermann ihrer Fähre „El Mallorquín“ sang während der Überfahrt mit wehmütiger Inbrunst, als brächte er ihnen allein ein nocturnes Ständchen dar, die Herbstnacht war subtropisch warm und sternenklar, ihr Schiff zog seine Bahnen durch „das blaueste aller Meere, das reinste aller Meere; man könnte es für das Meer Griechenlands halten oder für einen Schweizer See an einem Schönwettertag“.
Ausgefallene Flitterwochen oder vielmehr der fluchtartige Aufbruch von einem Paradies, dem pariserischen, in ein anderes, das mediterrane? Denn Sand und Chopin flohen zunächst vor dem dauerhaften Aufsehen, das ihre als skandalös empfundene Beziehung entfacht hatte. Mit ihrer wilden, ungewöhnlichen Liebe waren sie angeeckt. Der beträchtliche Altersunterschied zwischen den beiden Künstlern, Sands promiskes Vorleben und ihr gezielt androgynes Auftreten hatten fortwährend Anlass für maliziösen Klatsch geboten. Chopin fürchtete um sein Ansehen bei Gönnern, Mäzenen und ihm wohlgesinnten Musikfreunden. Seine gerade erst im Entstehen begriffene Laufbahn wollte er nicht unnötig gefährden – galt er doch als Hoffnungsträger unter den jungen Komponisten Europas. Sein Zeitgenosse Robert Schumann erblickte in ihm gar „den kühnsten und stolzesten Dichtergeist der Zeit“. Sollte er diese Reputation für seine Leidenschaft leichtfertig aufs Spiel setzen? Eine Zäsur tat dringend not.
Und Sand, für ihren beeindruckenden Männerverschleiß und ihre Schwäche für Jünglinge berüchtigt, brachte sich ihrerseits vor den Nachstellungen eines gewissen Félicien Malleville in Sicherheit. Der Jungautor Malleville, Sands Privatsekretär und Hauslehrer ihrer Kinder aus der Ehe mit dem Baron Casimir Dudevant, war zuvor, als eine Art Interimsliebhaber, Chopins Vorgänger gewesen. Ihm fiel es äußerst schwer, mit dem plötzlichen Liebesentzug fertigzuwerden. Chopins Rivale lauerte der Untreuen in Paris auf, wann immer sich eine Gelegenheit bot, und bedrohte sie mit Waffen. Ein ums andere Mal konnte sie sich nur mit Ausweichmanövern oder einem beherzten Sprung in eine Kalesche vor Malleville retten. Abstand von Paris war somit in der Tat geboten, auch für sie.
Auf der Suche nach einem Versteck und Liebesnest weckten Empfehlungen ihrer Freundin, der Gräfin Charlotte Marliani, Sands Neugierde. Beredt schwärmte Marliani, Gattin des spanischen Konsuls, ihr von Mallorca vor. Der auf der Insel geborene Marqués Francisco Valldemosa stieß ins selbe Horn: Zauberhafte und weitgehend unbesiedelte Landschaften, verführerische Aromen und barmherzige Temperaturen seien zu erwarten. Balsam für Sands halbwüchsigen Sprössling, dem ständige Rheumaschübe zu schaffen machten. Ärztliches Zuraten gab am Ende den Ausschlag, schließlich versprach sich auch Chopin eine Linderung seiner Lungenbeschwerden. Für eine exotischere Destination wie Marokko, das ihr gemeinsamer Malerfreund Eugène Delacroix soeben für sich entdeckt hatte, reichten die Mittel freilich nicht.
Vorsorglich ließ sich Sand, ganz südländische Señora, deshalb schon einmal als Spanierin porträtieren: Auguste Charpentier hielt sie in seinem berühmten Gemälde als stolze mediterrane Dame und aufrechte Katholikin fest. Kurzentschlossen reiste sie mit ihren Kindern Maurice und Solange im Zickzackkurs quer durch Frankreich nach Perpignan. Sie ließ sich Zeit.
Chopin, stets auf Diskretion bedacht, bestand auf unabhängiger Anreise, nahm aber wenig Rücksicht auf seine angegriffene Gesundheit und bewältigte die Fahrt gen Süden in wenigen, strapaziösen Tagen. Seine Inselpläne hatte er nicht an die große Glocke gehängt, doch der Löwenanteil des gemeinsamen Reisebudgets befand sich in seinem Gepäck. Musikverleger Pleyel hatte ihn mit einem Vorschuss auf seine in Arbeit befindlichen Préludes ausgestattet.
Kaum hatten sie mallorquinischen Boden betreten, gerieten sie in Überschwang und Bewunderung. „Hier bin ich nun in Palma“, schwärmte ein gänzlich euphorisierter Chopin, „unter Palmen, Zedern, Aloen, Orangen-, Zitronen- und Granatbäumen. Der Himmel ist türkisfarben, das Meer wie Lapislazuli, die Berge wie Smaragde. Und die Luft – wie im Himmel. Sonne den ganzen Tag. Alle kleiden sich wie im Sommer … und nachts hört man überall Gitarren und Gesang – stundenlang. Die Stadt, wie alles hier, sieht nach Afrika aus. Mit einem Wort – ein herrliches Leben.“
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Jens Rosteck, Jahrgang 1962, promovierter Musikologe und Literaturwissenschaftler, lebt als Musikforscher, Kulturgeschichtler, Buchautor und Biograf in Südfrankreich. Auf den Balearen verbrachte er einen Großteil seiner Kindheit und Jugend.
Vita | Jens Rosteck, Jahrgang 1962, promovierter Musikologe und Literaturwissenschaftler, lebt als Musikforscher, Kulturgeschichtler, Buchautor und Biograf in Südfrankreich. Auf den Balearen verbrachte er einen Großteil seiner Kindheit und Jugend. |
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Person | Von Jens Rosteck |
Vita | Jens Rosteck, Jahrgang 1962, promovierter Musikologe und Literaturwissenschaftler, lebt als Musikforscher, Kulturgeschichtler, Buchautor und Biograf in Südfrankreich. Auf den Balearen verbrachte er einen Großteil seiner Kindheit und Jugend. |
Person | Von Jens Rosteck |