Verloren im Paradies

Gestrandet auf einer einsamen Insel – ein Lieblings­topos in Literatur und Film. Wieso gefällt uns das Schaudern darüber so?

Ein Mann öffnet die Augen. Er sieht über sich tropische Bäume, sattes Grün, so weit das Auge reicht. Als die Kamera zurückfährt, sehen wir, dass der Mann ein weißes Hemd, Krawatte und einen Anzug trägt. Er sieht gepflegt aus, ordentlich rasiert und mit gut geschnittenen Haaren, Typ smarter New Yorker Business-Karrierist. Jemand, der auf keinen Fall in diese grüne Hölle passt. Denn die tropischen Pflanzen, die ohne erkennbaren Pfad eng beieinanderstehen, haben gar nichts gemeinsam mit den Urlaubsbildern, die die vielen Reiseangebote im Internet zieren. Als Jack, der offensichtlich nicht weiß, wie er hierhergekommen ist, panisch durch die Wildnis läuft, entpuppt sich das Grün als Bedrohung. Wilde Natur, in der ein Anzug keinerlei Wert besitzt, schlimmer noch, in der die feine Kleidung der Zivilisation so ziemlich das Unpraktischste ist, was ein Mensch tragen kann.

Schon die allererste Szene der Fernsehserie „Lost“ (2004–2010) zeigt in ikonischen Bildern, wie in der Literatur- und Mediengeschichte der Topos der einsamen Insel schon immer funktioniert hat. Ein Mensch fällt vom Himmel darauf hinab, aus allem gerissen, was sein Menschsein ausmacht. Auf der abgelegenen Insel ist er seines sozialen Netzes beraubt. Die Menschen, die ihm nahestehen, sind nur noch Erinnerung. Seine Verbindung zur Gesellschaft, sein Beruf, sein Status sind von einem Moment auf den anderen nichts mehr wert. Zivilisatorische Errungenschaften wie eben Jacks Businesskleidung erscheinen plötzlich seltsam deplatziert, angesichts einer Natur, in der der Mensch wieder zum Teil der Nahrungskette geworden ist und nicht länger an ihrer Spitze steht.

„Lost“ verknüpft idealtypisch all diese Elemente der klassischen Verschollen-auf-einer-einsamen-Insel-Geschichte. Jack ist nicht allein auf dem Eiland gestrandet, sondern Teil einer Gruppe. Als er endlich den Strand erreicht, muss er entdecken, dass er gerade einen Flugzeugabsturz überlebt hat. In den malerischen Wellen, die zunächst an unsere kollektiven westlichen Urlaubsfantasien erinnern, liegt das Wrack einer Passagiermaschine. Die Turbinen drehen sich noch, zwischen den Trümmern irren Menschen umher. Es sind die überlebenden Passagiere der „Oceanic 815“, einer über dem Meer verschollenen Linienmaschine, nach der keine Hilfsmannschaften suchen, wie sich bald zeigt. Ein Flugzeug, das mitten in unserer hochtechnologisierten Welt mitsamt einer Auswahl von Menschen einfach von den Radarschirmen verschwunden ist.

Es ist eine Auswahl an Zivilisationsbewohnern, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnte, eine zufällig zusammengewürfelte Schicksalsgemeinschaft, die auf der einsamen Insel neu beginnen muss. Denn der Neuanfang ist vielleicht das wichtigste Moment aller Erzählungen von Verschollenen.

Auf dem Eiland jenseits der alten Welt beginnt die Entwicklungsgeschichte der Spezies Mensch von Neuem. Aus dem Beherrscher dieses Planeten ist wieder der im Vergleich zu anderen Tierarten relativ schlecht angepasste Homo sapiens geworden, ein nacktes Wesen, das vieles ein bisschen, aber wenig richtig kann. Das Raubtieren schutzlos gegenübersteht, über kein wärmendes Fell verfügt, weder Flügel noch Schwimmflossen ausgebildet hat, nur bedingt klettern und auch nicht sonderlich schnell rennen kann, aber – und eben dieses „Aber“ treibt jede Inselgeschichte an – über eine erstaunliche Intelligenz und ausgefeilte Problemlösungsstrategien verfügt. Der Mensch ist das einzige Wesen auf diesem Planeten, das man mit praktisch nichts in einer feindlichen Umwelt aussetzen kann, um dann sofort zu beobachten, wie es versucht, sein Schicksal in die Hand zu nehmen und der Umwelt zu trotzen, um sie dann im Lauf der Jahre zu beherrschen. Das ist Evolutionsgeschichte im Schnelldurchlauf.

Interessant ist, dass in der langen Geschichte der medialen Inselabenteuer keineswegs nur die Besten gegen alle Wahr- scheinlichkeit überleben. In „Cast Away“ strandet Tom Hanks in der Rolle eines etwas adipösen Logistikmanagers ebenfalls nach einem Flugzeugabsturz auf einem entlegenen Stück Land. Auch die Bilder der im Jahr 2000 erschienenen Verfilmung arbeiten mit dem plötzlichen Herausgerissenwerden aus allen zivilisatorischen Verknüpfungen. Umgeben von auf einmal grotesk überflüssig erscheinenden Versandpaketen, sitzt Tom Hanks an einem Strand, der nicht einmal Toilettenpapier bereithält. Mühevoll und schmerzhaft muss er herausfinden, wie man eine Kokosnuss ohne Werkzeug knacken kann, wie man den Tau von den Bäumen als Trinkwasser sammelt und wie man sich ein einfaches Gehäuse aus Palmblättern baut, um sich gegen tropische Gewitter zu schützen.

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mare No. 130

Oktober / November 2018

Von Alexander Kohlmann

Der Dramaturg und Autor Alexander Kohlmann, geboren 1978, las als kleiner Junge auf dem Dachboden seiner Großeltern begeistert Robinson Crusoe – und träumte von Streifzügen über einsame Inseln irgendwo im Ozean. Für mare schrieb er unter anderem über Geisterschiffe (No. 99), „Die Schatzinsel“ (No. 102) und die weibliche Seefahrt (No. 111).

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Vita Der Dramaturg und Autor Alexander Kohlmann, geboren 1978, las als kleiner Junge auf dem Dachboden seiner Großeltern begeistert Robinson Crusoe – und träumte von Streifzügen über einsame Inseln irgendwo im Ozean. Für mare schrieb er unter anderem über Geisterschiffe (No. 99), „Die Schatzinsel“ (No. 102) und die weibliche Seefahrt (No. 111).
Person Von Alexander Kohlmann
Vita Der Dramaturg und Autor Alexander Kohlmann, geboren 1978, las als kleiner Junge auf dem Dachboden seiner Großeltern begeistert Robinson Crusoe – und träumte von Streifzügen über einsame Inseln irgendwo im Ozean. Für mare schrieb er unter anderem über Geisterschiffe (No. 99), „Die Schatzinsel“ (No. 102) und die weibliche Seefahrt (No. 111).
Person Von Alexander Kohlmann