Unfassbares über eine Unfassbare

Das Wesen der Zeit quält die Philosophen. Nur ein Brite behauptet tapfer: Es gibt sie gar nicht!

Das folgende mag all jene beruhigen, die stets ein schlechtes Gewissen plagt, weil sie nie Zeit haben: Womöglich hat niemand im bekannten Universum Zeit. Denn streng genommen gibt es keine.

Der Gedanke könnte, spontan betrachtet, die spleenige Idee irgendeines britischen Privatgelehrten sein, der in einem malerischen Türmchen auf seinem uralten Landgut seit Jahrzehnten kryptische Formeln aufs Papier wirft. Und genau so ist es auch: Das Landgut trägt den Namen College Farm, das Türmchen ist wirklich allerliebst, und der Privatgelehrte heißt Julian Barbour.

Seine verstörende These, Zeit sei letztlich nur eine besonders hartnäckige Illusion, hat etwas für sich. Dass mit der vierten Dimension etwas nicht stimmen kann, weiß schließlich jedes Kind. Warum sonst dehnt sich die letzte Schulstunde vor den großen Ferien zu einem wochenlangen Kontinuum? Und warum enden die Ferien, kaum dass sie begonnen haben, als sei gerade mal eine Stunde vergangen? Ganz offensichtlich nimmt es zumindest das Gehirn nicht so genau mit dem kostbaren Fluidum, das sprichwörtlich mit Geld aufzuwiegen ist.

Selbst unser wichtigster Anker in der Zeit, die so genannte Gegenwart, ist letztlich nur eine Gaukelei des Gehirns: Ein Moment dauert für unser Denkorgan geschlagene drei Sekunden. Wenn wir etwas Neues sehen, betrachten wir es maximal drei Sekunden, dann erst ist der „Augenblick“ vergangen, das Neue somit alt. Wenn wir glauben, rhythmisch zu klatschen, machen wir nach derselben Zeitspanne eine unmerkliche, aber messbare Pause. Wenn wir jemandem die Hand schütteln, dauert das im Schnitt ebenfalls drei Sekunden. Danach wird es uns peinlich – oder eine Liebesaffäre.

Flugbahnen von Vögeln oder Bällen können wir nur drei Sekunden vorausahnen. Und wenn wir dichten oder komponieren, haben die Verse oder Motive vorzugsweise diese Länge. So lange braucht das Gehirn, um alle Sinneseindrücke zu einer Gegenwart zu verweben, die es so nie gegeben hat.

Da unsere Wahrnehmung derart mit temporaler Fehlsicht geschlagen ist, bleibt nur ein körpereigener Chronograf, alles zu ordnen: unsere innere Uhr. Losgelöst vom Bewusstsein, regelt sie Ebbe und Flut von Blutdruck oder Adrenalinspiegel und beeinflusst auf Umwegen sogar die tageszeitliche Statistik von Geburten oder Fahrfehlern. Vielleicht ist sie unser Fels in der Brandung der Zeit?

Leider haben Forscher das Räderwerk der inneren Uhr in den vergangenen Jahren allzu sorgfältig zerlegt. Mit beunruhigendem Ergebnis: In uns arbeiten Millionen Uhren. Nicht nur im Gehirn, sondern in vielen Körperzellen tickt es. Eine Kaskade von Proteinreaktionen fügt sich in jeder von ihnen zu einem eher groben 24-Stunden-Rhythmus, der ständig neu justiert werden muss wie eine alte Taschenuhr. Dazu passend ist bereits ein rundes Dutzend Uhrengene gefunden worden. Die bestimmen, ob unsere zellulären Zeitmaschinen schneller oder langsamer gehen, ob sie Jetlag gut vertragen – oder ob sie gleich ganz ausfallen. Dann ist unser Leben nur noch ein arhythmisches Flimmern zwischen Schlafen und Wachen. (Speziell gezüchtete Mäuse, denen ein Gen mit dem Namen Period fehlt, wissen von selbst nicht mehr, wie spät es ist. Ihr Körper verliert vollständig seinen 24-Stunden-Rhythmus.)

Ist Zeit also wirklich nur eine Illusion, ein Produkt der Gene und Neuronen, eine Art biologischer Mummenschanz? Oder ist sie abstrakt und absolut – ein langer, ruhiger Fluss, der gottgegeben von Ewigkeit zu Ewigkeit fließt, unbeeindruckt vom Universum und dem ganzen Rest, schon gar von kreatürlicher Subjektivität?

Also sprach Sir Isaac Newton, und das Problem mit der vierten Dimension war mehr als zwei Jahrhunderte erledigt, jedenfalls für Physiker. Nach Newton leben wir in einer „absoluten, wahren und mathematischen Zeit, die an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand verfließt“. Darauf baut die klassische Mechanik auf, die beschreibt, wie Wellen sich fortbewegen, Möwen fliegen oder der Mond um die Erde kreist. In Newtons Welt ist Zeit einfach da. Sie ist die statische Bühne, auf der das irrlichternde Schauspiel des Universums aufgeführt wird.

Dann kam Albert Einstein, streckte seine Zunge heraus und verwirrte auch die Physiker: mit dem Hinweis etwa, dass wir nach der Speziellen Relativitätstheorie umso langsamer altern, je schneller wir uns bewegen. Denn alles sei relativ, so auch die Zeit. (Eine Folge ist das so genannte Zwillingsparadoxon: Wenn etwa ein Astronaut im Jahr 1991 mit vier Fünftel der Lichtgeschwindigkeit zu einem entfernten Planeten aufgebrochen ist, dort sofort gewendet hat und 2001 wieder zu Hause landet, ist er vier Jahre jünger als sein Zwillingsbruder auf der Erde.)


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mare No. 28

No. 28Oktober / November 2001

Ein Essay von Jochen Wegner

Jochen Wegner, 31, hat Physik und Philosophie studiert und über die Chaostheorie des Gehirns geforscht. Heute ist er Wissenschaftsredakteur im Ressort Forschung und Technik bei Focus. Nach seinem Besuch bei Julian Barbour bezweifelte er zeitweise, dass Zeit existiert.

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Vita Jochen Wegner, 31, hat Physik und Philosophie studiert und über die Chaostheorie des Gehirns geforscht. Heute ist er Wissenschaftsredakteur im Ressort Forschung und Technik bei Focus. Nach seinem Besuch bei Julian Barbour bezweifelte er zeitweise, dass Zeit existiert.
Person Ein Essay von Jochen Wegner
Vita Jochen Wegner, 31, hat Physik und Philosophie studiert und über die Chaostheorie des Gehirns geforscht. Heute ist er Wissenschaftsredakteur im Ressort Forschung und Technik bei Focus. Nach seinem Besuch bei Julian Barbour bezweifelte er zeitweise, dass Zeit existiert.
Person Ein Essay von Jochen Wegner