Treibgut, selig und fahl

as hatte das Mittelmeer einst einen Klang in unseren Ohren: ein Sehnsuchtsort voller Glücksverheißung, ein friedliches Arkadien, in dem Ziegenmilch und Pinienhonig flossen. Und heute?

Für uns Deutsche, als kontinentale Europäer mit einer kläglichen Kolonialbilanz, ist das Mittelmeer die Seele des Universums, das arkadische Eden, die spirituelle Endstation unserer romantischen Sehnsucht. Ein paar Jahre zwischen Genezareth, Gethsemane und Golgatha genügten, um Zeus zu kastrieren und im weiteren Verlauf das heidnische Rom zu bekehren. Der Kopf der Fischerbande endete zwar am Kreuz, doch sein Paulus segelte in müden Barken gegen alle Stürme, Fallen und Wetten an über Ephesos, Saloniki nach Korinth und veranstaltete die mächtigste Mission der Weltgeschichte. Er trug das neue Buch über dasselbe blaue Meer, welches auch Homer und Herodot half, ihre zeitlosen Werke, Gesänge und Kriegsreportagen unter die Menschheit zu bringen.

Ohne die Testamente, ohne die Ilias, die Odyssee und epidaurischen Spektakel hätten wir bis heute keine Theater, Opern, Museen oder „Tatort“-Abende. Ohne die steifen mediterranen Winde stünden kein Goethe, kein Dante und kein Hemingway in unseren Bibliotheken. Das Mittelmeer ist die Quelle unserer Zivilisation, unserer Inspiration und unserer Kultur. Und speziell wir küstenfernen Germanen sind auf absurde Art verliebt in unsere eigentliche Heimat südlich der Alpenkämme. Niemand schwärmte ent- und verrückter über das antike Italien und Griechenland als die Tübinger Stiftspoeten Hölderlin, Hegel und Schiller, die keinen blassen Schimmer hatten vom schönsten aller Meere. Was wohl unser Schiller heute in sein iBook notieren würde am Hafen von Lampedusa, wo die Fischer statt Seeteufel die zernagten Torsi afrikanischer Kinderleichen aus ihren Netzen pflücken?

Wir verwöhnten Schnösel, geboren so zwischen 1950 und 1970, kennen das Mittelmeer nur aus Zeiten des Friedens und betrachten es als ein von jeder Tragik befreites Idyll. Seit einigen Dekaden steht es für hedonistischen Pazifismus, mit bunten Kuttern, einsamen Buchten, weißen Stränden. Wie in einem Krippenspiel aus dem Märklin-Katalog bedienen heitere Archetypen das Klischee: Kapitäne, Bootsverleiher, Boutiquendamen, Kneipiers, Hafenmädchen, Leuchtturmwärter, Tauchlehrer, Hotelbesitzer, Gigolos, Casinogänger, braun gebrannte Hetären. Mir erschien dieses Meer als ozeanisches Wunder mit einer Garantie für Ethik, Solidarität, Völkerverständigung. Auf den Decks der verrosteten Kähne zwischen Palermo und Calgari, Genua und Bastia, Patras und Ancona wurde uns naiven Nachhitlerjungs die historische KZ-Schuld genommen, und eine befreiende Leichtigkeit schuf neue Freundschaften am Fließband. Ich tauschte den zerfledderten „Steppenwolf“ gegen ein zerfleddertes „On the Road“, meine Gitarre gegen einen Fußball. Jede Menge Joints, Ouzo und Acid befeuerten Glück, Ekstase, Zauber und Amouren, und während das blaue Blau um uns herum tanzte, sangen wir noch etwas textschwach „Bird on the Wire“, „Longer Boats“, „Atlantis“, „Salty Dog“ und ein grimmiges „Tangled up in Blue“, wenn der letzte Amex-Travellerscheck verprasst war. Zu Hause hing eine Europakarte unterm Hochbett, wo kleine blaue Fähnchen alle Orte dokumentierten, an denen mich das heilige Meer umarmt hatte. Mit jedem Jahr wurden es mehr, und wie bei einem edlen Parfum aus Grasse hafteten an ihnen Myriaden süßer Erinnerungen.

Parallel zur subjektiven Euphorie erlebten die meisten Länder des maritimen Südens Mitte der 1970er eine einzigartige Katharsis. Portugal lieferte eine Nelkenrevolution, in Italien stand die KP kurz vor dem Historischen Kompromiss, 1974 kehrten Theodorakis und Mercouri aus dem Exil zurück nach Athen und feierten das Ende der Junta, Spanien bejubelte ein Jahr später Francos Herzinfarkt, in Paris bahnte sich der Triumph der Sozialisten um Mitterrand an, Tito zog in Jugoslawien seinen antistalinistischen Kurs durch, und Willy Brandt fehlte zum Glück nur ein deutscher Mittelmeerhafen.

Das Mittelmeer erlebte ein goldenes Zeitalter, einen ozeanisch-orgiastischen Flow, den Henry Miller 1940 in seinem kolossalen Hellashymnus antizipierte: „Seit ich in eurem Land bin, weiß ich, dass das Licht heilig ist. Griechenland ist für mich ein heiliges Land … Gott hat alles im Voraus bedacht. Wir brauchen keine Probleme zu lösen, es ist alles für uns gelöst worden. Wir müssen nur zerschmelzen, uns auflösen, um in der Lösung zu baden.“ Und wir Kinder des Olymp verschmolzen und badeten in unserer azurblauen Lösung, die Swinburne als „heiliges Meer“ und „verlorenes Paradies“ bezeichnete und Vergil als „dunkles und vergessliches Reich“. Der 30-jährige Dichter Shelley opferte im Juli 1822 während eines humorlosen Orkans vor Viareggio sein Leben beim Versuch, in der göttlichen Tiefe „das große Rätsel zu lösen“. Und wir anonymen wie heillosen Spätromantiker sehnten uns nach dem Sprung in die Fluten, nach dem abstrakten Liebesakt, der Metamorphose, umgeben von lavendelblauen Luftblasen und elfenbeinweißen Korallenkathedralen. Wie für Lord Byron auch bot uns das Versinken im Mittelmeer die Erlösung von Leere, Langeweile und Lebensekel, und insofern man noch Latein als Hauptfach hatte, ließ sich auf Ovid zurückgreifen: „Ungünstige Winde nicht, nicht zornige Seen vermögen aufzuhalten den, der unter dem Befehl der Liebe steht.“ War also dieses Meer bis vor ein paar Jahren noch eine so grenzenlose wie zutiefst intime Liebesaffäre, erschien uns bekifften Gymnasiasten die restliche Welt, die Berge, Straßen und Städte, bestenfalls als ein Kontinent der gestrandeten Existenzen.


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mare No. 96

No. 96Februar / März 2013

Von Wolf Reiser

Wolf Reiser, Jahrgang 1955, lebt und arbeitet als Autor in München-Schwabing. Emotionaler Höhepunkt seiner jahrelangen Reisen an die Küsten des Mittelmeers war Mikis Theodorakis’ Konzert im Oktober 1974, kurz nach dessen Rückkehr aus dem Pariser Exil, im Stadion von Piräus. Mit 40 000 vom Glück Erfüllten wurde er Zeuge der Wiedergeburt der Freiheit. Sein Essay beschäftigt sich mit dem drohenden Verlust dieses Geschenks.

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Vita Wolf Reiser, Jahrgang 1955, lebt und arbeitet als Autor in München-Schwabing. Emotionaler Höhepunkt seiner jahrelangen Reisen an die Küsten des Mittelmeers war Mikis Theodorakis’ Konzert im Oktober 1974, kurz nach dessen Rückkehr aus dem Pariser Exil, im Stadion von Piräus. Mit 40 000 vom Glück Erfüllten wurde er Zeuge der Wiedergeburt der Freiheit. Sein Essay beschäftigt sich mit dem drohenden Verlust dieses Geschenks.
Person Von Wolf Reiser
Vita Wolf Reiser, Jahrgang 1955, lebt und arbeitet als Autor in München-Schwabing. Emotionaler Höhepunkt seiner jahrelangen Reisen an die Küsten des Mittelmeers war Mikis Theodorakis’ Konzert im Oktober 1974, kurz nach dessen Rückkehr aus dem Pariser Exil, im Stadion von Piräus. Mit 40 000 vom Glück Erfüllten wurde er Zeuge der Wiedergeburt der Freiheit. Sein Essay beschäftigt sich mit dem drohenden Verlust dieses Geschenks.
Person Von Wolf Reiser