Tier auf Papier

Für die Kartografen der Renaissance waren die Eisbären an arktischen Küsten Inbegriff für die Abenteuer der Entdeckungsseefahrt

Mythische Bestien – Riesenkraken, Fischmonster, Seeschlangen – repräsentierten ferne Welten in den Werken vieler Kartografen der Renaissance. „Hic sunt ursi albi“, „Hier sind weiße Bären“, versprach eine frühe Landkarte der ­Arktis anstelle von „Hier sind Drachen“. Bevor sie modische ­Kuriositäten wurden, signalisierten die seltenen, geisterhaften, von der Linse der Vorstellung verzerrten Raubtiere die Gefahren ungezähmter und vielleicht unzähmbarer Wildnis.

Entdecker, die im 16. Jahrhundert zunehmend in die Arktis vorstießen, brachten Anekdoten über tierische „Menschenfresser“ zurück in die Heimathäfen. Dank der um 1440 erfundenen Druckpresse verbreiteten sich diese Erzählungen und Zeichnungen der weißen Bären wie windgetragene Sporen in Europa. Auf Trophäen, Gerüchten und Reiseberichten beruhende Darstellungen, manchmal wiederholt übersetzt, enthielten oft Fehler, die kopiert wurden. So manchem Stubenhocker lief die Fantasie aus dem Ruder. Das Vakuum fürchtend, Sensationen erhoffend, bevölkerten sie Leerräume mit Wesen, die teils Seemannsgarn, teils Halluzination waren. In der grafischen Version des Stille-Post-Spiels wurden aus Gerüchten Fakten und die Kreaturen bizarr, bis letztendlich, nach Jahrhunderten, Sachlichkeit triumphierte.

Der Name der Region selbst huldigt einem nördlichen Bären. Das griechische Wort „arktikós“ verweist auf Regionen, die, vom Mittelmeer aus betrachtet, unter dem Sternbild Ursa Major, der Großen Bärin, einem Richtungsweiser der Seefahrer, liegen. In der „Himmelskarte“ des Johannes Hevelius von 1687 hat der Bär einen Katzenschwanz, um verstreute Sterne zu integrieren.

Bezeichnenderweise finden sich auf Karten des Mittelalters noch keine Eisbärabbildungen. Der venezianische Mönch Fra Mauro erwähnte auf seiner „Mappa mundi“ des Jahres 1459 jedoch diese Fremdlinge: „Norvegia ist eine weite, von Meer umgebene, mit Svetia [Schweden, die Red.] verbundene Provinz. Und es wird behauptet, es gäbe dort viele neue Tierarten, besonders riesige weiße Bären und andere wilde Bestien.“ Mauros Karte ist eine Planisphäre, ein rundes, auf Holz montiertes Pergament mit einem Durchmesser von zwei Metern, auf dem Süden, nicht Norden, oben liegt. In ihrem Bezug auf Reiseberichte anstelle geografischer Erhebungen ist sie ein typisches Produkt des Spätmittel­alters und seines spirituellen, von Anekdoten geprägten Weltbilds. 

Auch der deutsche Seefahrer und Geograf Martin Behaim in Nürnberg bezog sich auf Berichte wie die Marco Polos, als er die Fertigung eines „Erdapfel“-Globusses beaufsichtigte. Dieser zeigt vielleicht einen Bären nahe dem Nordpol – und das im Jahr 1492, als Kolumbus gen Cipango segelte, wie Japan damals hieß. Auf einer Grönland ähnlichen Insel zielt ein Bogenschütze auf einen weißen Vierbeiner. Wolf? Polarfuchs? Eisbär? Die Spezies lässt sich auf dem oft reparierten und revidierten Globus nicht eindeutig erkennen.

Zur Blütezeit des Entdeckungszeitalters in Europa nach dem Meilensteinjahr 1492, insbesondere mit der Suche nach einer Schiffspassage durch die Arktis, trafen Europäer zunehmend auf

Eisbären in deren eigenem eisigem Revier. (Ihre Felle waren bereits seit Islands Besiedlung durch Norweger im Jahr 874 ein Handelsgut.) Zuerst dienten diese Reisen der Öffnung von Routen nach Japan und zu den Gewürzinseln im Indischen Ozean. Später begannen auch nationales Selbstverständnis und Prestige, die Suche nach verschollenen Expeditionen sowie strategische Gesichtspunkte eine Rolle zu spielen. 

Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 150. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 150

mare No. 150Februar / März 2022

Von Michael Engelhard

Der Anthropologe Michael Engelhard ist Autor von „Ice Bear: The Cultural History of an Arctic Icon“. Er lebt als Wildnisführer und Journalist in Alaska.

Mehr Informationen
Vita Der Anthropologe Michael Engelhard ist Autor von „Ice Bear: The Cultural History of an Arctic Icon“. Er lebt als Wildnisführer und Journalist in Alaska.
Person Von Michael Engelhard
Vita Der Anthropologe Michael Engelhard ist Autor von „Ice Bear: The Cultural History of an Arctic Icon“. Er lebt als Wildnisführer und Journalist in Alaska.
Person Von Michael Engelhard