Die Form
Es darf kein sonniger Tag sein, an dem man erahnen könnte, wie Sylt geworden ist, was es ist. Was es zuallererst ist. Eine Insel. Deren Umriss als Markenzeichen festhaftet auf den Autos deutscher Festlandbewohner, ein Aufkleber wie ein Ausrufezeichen, vielleicht die günstigste Art zu sagen: Ich war da. Es braucht einen Sturm, um ihre Geschichte zu erzählen, einen mächtigen, wie im Jahr 1362, als die Flut ein Stück Küste versenkte und drei vorgelagerte Inseln übrig ließ: Amrum, Föhr und Sylt. Das formale Marketing hätte damals noch nicht so gut funktioniert. Sylts Inselkörper war zunächst gedrungen, ein bisschen plump, es fehlte ihm das Filigrane, das heute bei Ausfahrten für reizvolle Ausblicke an den schmalsten Stellen sorgt. Ein paar spätere Unwetter erst haben die größeren Bögen in die Wattseite gefräst und drei Streifen stehen lassen, Nord-, Süd- und Ostteil der Insel, im Westen eine fast gerade Kante, nur Sand und Meer. Würde das stete Zerren der Nordsee an den Rändern nicht das ferne, aber sichere Ende des ganzen Syltzaubers bedeuten, man müsste dankbar sein für den Eigensinn der Naturgewalt, weil es wenig Ansichten gibt in der deutschen Landschaft, die so surreal wirken wie die Dünenberge im Listland oder auf dem Weg von Rantum nach Süden. Es könnte der Wüstenplanet sein, im Winter, oder eine Endzeitvision von Cormac McCarthy, aber das sind möglicherweise nicht die Fantasien der Menschen in den Autos mit den Aufklebern.
Der Inhalt
99,14 Quadratkilometer Fläche, 140 Kilometer Küste, davon 40 Kilometer Strand. Knapp 20 000 dauerhafte Bewohner und Bewohnerinnen, zuletzt wieder etwa 750 000 Gäste im Jahr, die im Schnitt sieben Tage bleiben. Die einen wollen nicht weg, die anderen immer wieder hin. Der kleinste gemeinsame Nenner aller Fraktionen ist ein reichlich überstrapazierter Begriff: Zu viele nennen Sylt einen „Sehnsuchtsort“. Als wäre damit alles gesagt, über die liebste Insel der Deutschen (ein paar Schweizer und Dänen sind auch manchmal da). Als sei die Liebe eine Selbstverständlichkeit und für alle Liebenden gleich.
Die Übrigen, die von Differenzen und Abhängigkeiten, von Hoffnungen und Hochgefühlen, von Ängsten und Abscheulichkeiten auf Sylt nur in der Zeitung lesen, suchen eine andere Projektionsfläche. Es ist ihnen Abbild des Abgrunds, auf den alles zusteuert, wo sich Scheren ins Unermessliche öffnen, wo die Reichen und nicht wirklich schön Operierten Heidekraut und Normalverdiener mit Füßen treten, das ganze Elend so akribisch wie devot dokumentiert von der Hofberichterstattung der Boulevardmagazine.
Die Ankunft
Wer keinen Privatjet hat oder auch nur Linienflugscham, überquert mit der Bahn den Damm. Lebenslinie der Insel seit 1927, Reichspräsident Hindenburg hat sie seinerzeit eröffnet, sein Name ist an dem Bauwerk kleben geblieben. Eine zweifelhafte Ehre, wie manche heute finden. Die Deutsche Bahn kontert mit „2010“, so ist das Bauwerk dort gelistet, nur Tunnel haben hierzulande offizielle Namen. Man könnte glauben, sich von der Welt zu entfernen, wenn man auf dem Damm mitten durchs Wattenmeer fährt. Erwartungsvoll gezückte Smartphones rechts und links, schon einmal tief Luft holen, fast hätte man vergessen, wo man ist, nämlich noch im Zug. Und dann landet man: in Westerland. Wo keine befreiende Brise weht, sondern hoch kondensierter deutscher Kleinstadtmief. Nachkriegsbetontristesse, verödende Fußgängerzone, ein trauriges Orchester aus Osteuropa spielt in der Strandmuschel Wunschkonzerte, den letzten Rest gibt man sich in der Schlagerbar. Größtes Verkaufsargument: Strand, Meer und kurze Wege zu allen Versorgungseinrichtungen, die dasselbe bieten wie daheim. Mit ein bisschen mehr Hering dazu. Der macht übrigens auch das Rennen in den vielen Deutungsversuchen der legendären vier Buchstaben. Sylt, das könnte sich von „Sild“ ableiten, so heißt der Fisch auf dänisch und ist außerdem seit 1668 insulares Wappentier.
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Martina Wimmer ist mare-Redakteurin und hatte vor den Recherchereisen für diesen Text sehr rudimentäre Erinnerungen an Sylt. In den 1990ern begleitete sie als Musikjournalistin eine Band zu einem winterlichen Videodreh auf die Insel, hat davon aber nur im Kopf behalten, wie Eierpunsch schmeckt.
Fotografien von Heike Ollertz, Bruce Gilden, Dmitrij Leltschuk und Stefan Pielow.
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Vita | Martina Wimmer ist mare-Redakteurin und hatte vor den Recherchereisen für diesen Text sehr rudimentäre Erinnerungen an Sylt. In den 1990ern begleitete sie als Musikjournalistin eine Band zu einem winterlichen Videodreh auf die Insel, hat davon aber nur im Kopf behalten, wie Eierpunsch schmeckt. Fotografien von Heike Ollertz, Bruce Gilden, Dmitrij Leltschuk und Stefan Pielow. |
Person | Von Martina Wimmer (Text) und Heike Ollertz, Bruce Gilden, Dmitrij Leltschuk und Stefan Pielow (Fotografien) |
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Vita | Martina Wimmer ist mare-Redakteurin und hatte vor den Recherchereisen für diesen Text sehr rudimentäre Erinnerungen an Sylt. In den 1990ern begleitete sie als Musikjournalistin eine Band zu einem winterlichen Videodreh auf die Insel, hat davon aber nur im Kopf behalten, wie Eierpunsch schmeckt. Fotografien von Heike Ollertz, Bruce Gilden, Dmitrij Leltschuk und Stefan Pielow. |
Person | Von Martina Wimmer (Text) und Heike Ollertz, Bruce Gilden, Dmitrij Leltschuk und Stefan Pielow (Fotografien) |