Sylt

Strand haben andere Inseln auch. Aber hier plantschte die Prominenz, hier protzten die Möchtegerns. So begründet man einen Kult

Wenn diese Insel eine Seele hat, dann verdient sie es, dass man sie bedauert. Dieses so heiß und rücksichtslos geliebte, zu Tode begehrte, selbstvergessene Eiland. Dem nördlichsten Abschnitt der deutschen Küste und dem südlichsten Abschnitt der dänischen vorgelagert wie ein Schutzstreifen aus violetter Heide und blondem Sand. 38 und einen halben Kilometer lang. An seiner stärksten Stelle 4000, an seiner schwächsten 400 Meter breit. Der lange, schmale Schattenriss der Insel ist Deutschlands meist verkaufter Autoaufkleber. Sylt.

Als ich erstmals über Sylt hörte, von meinen Eltern, war ich zehn, vielleicht zwölf Jahre alt. Ich erinnere mich nicht genau an den Wortlaut, aber es kann nichts Gutes gewesen sein. Meine Mutter tippte im Büro eines Heizgeräteherstellers, mein Vater schleppte auf dem Bau Steine. Von ihrer Auffassung von Vergnügen ganz zu schweigen, verdienten beide zusammen gerade genug Geld, dass wir mit Mühe zwei Sommerwochen in einem Kaff auf dem nordfriesischen Festland verbringen konnten. Wir waren durch und durch Sylt-untaugliche Klientel, und wir würden es immer bleiben. Hin fuhren wir trotzdem, einmal, von unserem Festlandkaff aus. Wir blieben von Mittag bis zum frühen Abend. Mehr Sylt konnten wir uns nicht leisten. Aus meines Vaters Mund klang das so: „Ich bin doch nicht Krösus!“ Und zwar in einem Tonfall, der jedermann überzeugen sollte, dass er sich froh zu schätzen wusste, nicht Krösus zu sein.

Fast 30 Jahre ist das her. Das Bemerkenswerte, weil Aktuelle an dieser Reise ist, dass es meine Eltern seinerzeit nicht nach Hörnum gezogen hat, in den touristenarmen Sylter Süden, wo eine Currywurst mit Pommes frites bezahlbar und die Insel von der Liebe der Menschen zu ihr noch unbeschadet, also sehenswert war. Sie spazierten mit mir durch Westerland. Das zubetonierte und bis zur Lächerlichkeit überteuerte Inselhauptstädtchen. Und alles, was meine Mutter über Jahre von Sylt erinnern konnte, waren Westerlands tröstliche Hässlichkeit – „Alles damals schon total verbaut! Ich verstehe nicht, wie man da hin–fah–ren kann!“ – und der Preis für ein Paar rote Kinderschuhe: „265 Mark! Unverschämtheit! Die gleichen hatte ich dir in Husum für 65 Mark gekauft!“ Jenen Autoaufkleber nennt mein Vater bis heute „Möwenschiss“. Sylt ist nicht Sylt ist nicht gleich Sylt. Sylt ist, was die Menschen, die es aufsuchen, finden wollen. Wie jeder andere Ort auf der Welt.

Ich bin noch einmal hier. Zum zweiten Mal erst seit damals. Selbst in den vergangenen acht Jahren, in denen ich in unmittelbarer Sylt-Nähe auf dem Festland wohne, hat mich nichts jemals auf die Insel gezogen. Wenn mir nach Sand und Brandung ist, fahre ich nach Dänemark, auf die Insel Röm. Röm kann man über einen Autodamm bequem erreichen und über Insel und Strand bis direkt ans Wasser fahren. Um dort dann entweder a) zu baden, b) im Sand zu liegen oder c) dem Beispiel Faxe-seliger Dänen folgend, johlend, das Autoradio aufgedreht bis zum Ohrenzerplatzen, kreisrunde Reifenspuren in den Sand zu brausen. Man sieht: In grundlegenden Dingen ist das Röm-Angebot von dem Sylts nicht sehr verschieden. Dennoch. Röm blieb eine Insel, Sylt wurde Kult.

Warum? Ist der Wind auf Sylt frischer als auf Röm? Verlangt das Meer auf der Nachbarinsel Amrum dem Betrachter weniger Ehrfurcht ab? Wieso suchten der Adel, die Maler, die Dichter, die Habseligen in diesem langen, dürren Möwenschiss ihr Paradies, das in dem gefällig gerundeten Föhr nicht zu finden gewesen wäre? Sicher, ein Teil des Erfolgs muss an der Form liegen. Föhr als Schattenriss auf das Autoheck kleben hieße, einen Klecks spazieren zu fahren, den in seiner Beliebigkeit niemand begreift. Sylt ist noch als Klebeklecks unverkennbar. Heute.

Um 1850 ist Westerland ein Dorf jenseits vom Rest der Welt. 466 Menschen leben dort, verteilt auf 101 Häuser. Die Männer Seefahrer, Fischer, Bauern. Zu Besuch findet ab und an ein Verwandter her, seltener noch ein Fremder. Der Arzt Gustav Ross aus Altona reist nach Westerland zuliebe seiner Frau. Der Skeptiker ist begeistert. Er schwärmt: „Ein großartiges Meer, ein Strand, meilenweit ausgebreitet wie der köstlichste Sammetteppich, die fantastischste Dünenwelt, die hehre Schönheit der ganzen Insel.“

Die Sehnsucht der Freunde daheim, in Hamburg, ist geweckt. 1855 kommen die ersten Badegäste nach Sylt; Ärzte, Kaufleute. Es kommt Geld. Noch gibt es kein Hotel, keine Pension, die Friesen räumen für die Gäste Zimmer in ihren Häusern, und die paar Mark, die sie dafür bekommen, halten sie fest, ganz fest. Ross, Vater der Sylt-Suchenden, drängt: „Baut ein Hotel, die Leute wollen Komfort.“ Ihre Anreise ist mühsam genug. Zwölf Stunden mit dem Dampfer von Hamburg bis zur Nössespitze bei Morsum. Von dort mit der Droschke noch eine Stunde bis ins werdende Seebad Westerland. Die Sylter, folgsam, solange einer nur bessere Zeiten verspricht, gründen eine Bade-AG, die kümmert sich um das bisschen Fremdenverkehr. 1857 öffnet das erste Hotel, „Dünental“. Die Festrede hält Günter Ross: „Erkennt es dankbar an, dass die gütige Natur eure Insel mit so herrlichen Eigenschaften zu einem Seebade ausgestattet hat und das offene Auge einiger unter euch diesen Fingerzeig der Natur genutzt hat.“


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 50. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 50

No. 50Juni / Juli 2005

Von Antje Joel und Robert Lebeck

Antje Joel, geboren 1966, wohnt in einer Kate nicht weit vom Meer. Sie hat für die Weltwoche, Zeit, Frankfurter Rundschau geschrieben und arbeitet zurzeit für niemanden als sich selbst. Statt nach Sylt fährt sie sommers zur Nachbarinsel Röm.

Robert Lebeck, Jahrgang 1929, war 30 Jahre Fotoreporter beim Stern. 1962 produzierte er mit Erich Kuby die erste Reportage über den neuen Sylt-Kult, Die stummen Nackten. Eine Woche lang stürzten sich Autor und Fotograf mit Begeisterung ins Strandleben – nackt wie die Prominenz, auf die sie es abgesehen hatten, „denn“, sagt Lebeck, „die mussten sich doch erst einmal an uns gewöhnen“.

Mehr Informationen
Vita Antje Joel, geboren 1966, wohnt in einer Kate nicht weit vom Meer. Sie hat für die Weltwoche, Zeit, Frankfurter Rundschau geschrieben und arbeitet zurzeit für niemanden als sich selbst. Statt nach Sylt fährt sie sommers zur Nachbarinsel Röm.

Robert Lebeck, Jahrgang 1929, war 30 Jahre Fotoreporter beim Stern. 1962 produzierte er mit Erich Kuby die erste Reportage über den neuen Sylt-Kult, Die stummen Nackten. Eine Woche lang stürzten sich Autor und Fotograf mit Begeisterung ins Strandleben – nackt wie die Prominenz, auf die sie es abgesehen hatten, „denn“, sagt Lebeck, „die mussten sich doch erst einmal an uns gewöhnen“.
Person Von Antje Joel und Robert Lebeck
Vita Antje Joel, geboren 1966, wohnt in einer Kate nicht weit vom Meer. Sie hat für die Weltwoche, Zeit, Frankfurter Rundschau geschrieben und arbeitet zurzeit für niemanden als sich selbst. Statt nach Sylt fährt sie sommers zur Nachbarinsel Röm.

Robert Lebeck, Jahrgang 1929, war 30 Jahre Fotoreporter beim Stern. 1962 produzierte er mit Erich Kuby die erste Reportage über den neuen Sylt-Kult, Die stummen Nackten. Eine Woche lang stürzten sich Autor und Fotograf mit Begeisterung ins Strandleben – nackt wie die Prominenz, auf die sie es abgesehen hatten, „denn“, sagt Lebeck, „die mussten sich doch erst einmal an uns gewöhnen“.
Person Von Antje Joel und Robert Lebeck