Ein Schwarm Pelikane überfliegt den Kanal. Das Licht der aufgehenden Sonne färbt sie rot. Angebundene Holzboote heben und senken sich vor haushohen Schiffswracks, die in Schräglage verrotten. Sulina, 3600 Einwohner, ist die östlichste Stadt Rumäniens und das Ende der EU.
Kilometer null, sagt ein Blechschild am Kai, mitten auf dem Land. Im Jahr 1877, als man die Vermessung der Donau von der Mündung bis zur Quelle initiierte, schlug hier das Schwarze Meer an den Strand. Aber das Delta schiebt sich unaufhörlich nach Osten vor. Heute beginnt die Marea Neagra˘ erst viele Kilometer hinter der Nullmarkierung. Der Kanal muss ständig neu ausgegraben werden. Nachgemessen wurde schon lange nicht mehr.
Cristi nimmt die Sonnenbrille ab und bestellt ein Bier. Die Terrasse der Pension „Perla“ liegt direkt am Kanal an der Straße 1. So gut wie alle Restaurants, Cafés, Hotels von Sulina grenzen an diese Straße. Mit Blick auf die Landungsstellen. Sulina ist nur über das Wasser zu erreichen; zufällig kommt hier niemand vorbei.
Der Ort hat sechs Hauptstraßen. Straße 1 und Straße 2 sind asphaltiert. Sonst Sand und der Klang alter Geräusche: das Ausklopfen der Teppiche auf den Stangen, das Krähen der Hähne, das Getrappel der Hufe eines Pferdes, das seinen Weg kennt. Die Stille.
Cristi ist 1983 in Sulina geboren. Als Ceau¸sescu und seine Frau vor laufenden Kameras standrechtlich erschossen wurden, war er sechs Jahre alt. Er hat in Tulcea, der nächstgrößeren Stadt (fünf, sechs Stunden mit der Fähre entfernt, etwa zwei mit dem Schnellboot), Kunst studiert. Später malte er in spanischen Kirchen und Bars. Er kam zurück. Aus Gründen, so klar wie die ständigen Nebel über Kanal und Strand, wenn sich warme und kalte Wasserschichten mischen. Cristi schiebt seine Schildmütze aus der Stirn, dann liegen seine muskulösen Arme wieder auf dem Holztisch, unternehmungsbereit. In Sulina ist er der Mann, der etwas versucht.
Er spricht Englisch und führt Leute, die sich für die Landschaft des Deltas interessieren, die Vögel beobachten oder mit dem Boot durch die Seerosenteppiche gleiten wollen. Er organisiert den Land Rover für die Fahrt über die Sandinseln mit ihren Dünen und wilden Pferden, den Eichen- und Eschenwäldern und den armen, für Touristen pittoresk anmutenden Siedlungen der Leute aus Moldawien, aus der Ukraine. Und er führt Fremde, die wegen der Geschichte kommen. Sulina war im 19. Jahrhundert ein Treffpunkt der internationalen Diplomatie, damals, als Sulina der Ort des Kilometers null wurde.
Cristi lebt bei seiner Mutter in einer Plattenbauwohnung. Sie hat 38 Jahre in einer der Fischfabriken gearbeitet, die unter Ceau¸sescu errichtet wurden. Heute verfallen die Anlagen, Ruinen mit glaslosen Fenstern, durch die der Wind fährt. Im Kommunismus produzierte Sulina 20 000 Tonnen Fischkonserven im Jahr. Von seinem Atelier würde Cristi nicht sprechen; er malt in seinem Zimmer und verkauft ab und an Bilder an ein Restaurant oder gestaltet die Wand in einer Kneipe neu. Aber sein Kapital ist, was er weiß und wen er kennt.
Er sammelt historische Postkarten und stellt sie auf Facebook: „Europolis Sulina“. Und in Sepiatönen ersteht die Erinnerung an die alte Zukunft wieder auf: vielmastige Segelschiffe mit jubelnden Gästen, Bälle, Feste am Strand in den Kleidern aus Paris und London; die Reihe strammstehender Matrosen in Weiß, dekorierte Kapitäne, Herren in Zylinder und mit wichtigen Mienen unter dem rot-weiß-blauen Emblem: C. E. D. Damals, zur Zeit der Comisia Europeana˘ a Duna˘rii, der Europäischen Donaukommission, war die Straße 1 ein Boulevard der zweistöckigen Häuser mit Balustraden oder schönen hölzernen Erkern im osmanischen Stil.
Cristi nimmt einen Schluck Bier. Er grüßt eine gebückte Frau mit wollenem Kopftuch, die eine Propangasflasche auf einem Leiterwagen hinter sich herzieht. Die Auffüllstelle liegt wenige Meter wei- ter am Kai. Eine Mutter in rosa Steppjacke radelt vorbei; hinter ihr auf dem Gepäckträger, ein Kissen unter den Hintern geschoben, ihre kleine Tochter, auch in Rosa. Die Pudelmütze mit den abstehenden Tigerohren hat das Mädchen bis zum Hals gezogen und streckt, damit sie nicht in die Speichen geraten, die Beine in Strumpfhosen und Gummistiefeln weit von sich. Sie lacht in die Morgensonne. Zwei bärtige Lipowaner mit stahlblauen Augen – Männer einer orthodox gläubigen Gemeinschaft, die aus religiösen Gründen vor 300 Jahren aus Russland ins abgelegene Donaudelta floh –, die kantigen Köpfe von russi- schen Bibermützen geschützt, gehen vor- über, als hätten sie ein Ziel. Wilde Hunde dösen auf Steinplatten, manchmal folgen sie für einige Schritte einem Passanten, in der Hoffnung auf einen freundlich hingeworfenen Bissen. Dann wieder ein junger Mann, eine Propangasflasche ziehend. Lange nicht alle Häuser haben Strom.
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Julien Pebrel, Jahrgang 1983, ist Fotograf in Paris und wird vertreten von der Agentur M.Y.O.P. Er besuchte Sulina mehrere Mal, anfangs, 2008, inspiriert von dem Buch „Balkans-Transit“ des französischen Autors François Maspero. Die Liebe zum Delta und seinen Menschen hält bis heute.
Vita | Julien Pebrel, Jahrgang 1983, ist Fotograf in Paris und wird vertreten von der Agentur M.Y.O.P. Er besuchte Sulina mehrere Mal, anfangs, 2008, inspiriert von dem Buch „Balkans-Transit“ des französischen Autors François Maspero. Die Liebe zum Delta und seinen Menschen hält bis heute. |
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Person | Von Angelika Overath und Julien Pebrel |
Vita | Julien Pebrel, Jahrgang 1983, ist Fotograf in Paris und wird vertreten von der Agentur M.Y.O.P. Er besuchte Sulina mehrere Mal, anfangs, 2008, inspiriert von dem Buch „Balkans-Transit“ des französischen Autors François Maspero. Die Liebe zum Delta und seinen Menschen hält bis heute. |
Person | Von Angelika Overath und Julien Pebrel |