Steinreich

Ein Felsen im Nordatlantik lässt seit 60 Jahren politische Gemüter in Großbritannien, Irland, Dänemark und Island rumoren

Wie ein Bollwerk Schützen die Äußeren Hebriden das schottische Festland – eine Kette karger Eilande mit klangvollen Namen wie Lewis and Harris und Uist. Einzig Saint Kilda tanzt aus der Reihe und bildet 60 Kilometer vorgelagert einen letzten schottischen Außenposten. Weiter nach Westen folgt nur noch offene See – 3000 Kilometer wilder Atlantik bis Neufundland und Labrador. Nichts als Wasser? Fährt man die vermeintlich freie Strecke auf einer Seekarte der britischen Admiralität ab, bleibt der Finger 400 Kilometer westlich von Saint Kilda unweigerlich hängen. Neben einem kleinen schwarzen Fleck mitten im Atlantik steht da „Rockall“ und gleich daneben „Helen’s Reef“. Ein kleines Sternchen verweist auf eine Marginalie am Kartenrand, wo folgender Eintrag zu lesen ist: „Magnetische Anomalie im 15-Meilen-Radius um Rockall.“ Eine Magnetinsel also, die den Schiffskompass verrückt spielen lässt. Klingt irgendwie nach Bermudadreieck und Jules Verne.

Nähert man sich Rockall zur See, zeigt sich eine gigantische steinerne Haifischflosse, die die Gischt schneidet. 20 Meter hoch, 25 Meter breit und 30 Meter lang. An der Wasserkante klammern sich Algen und Schnecken an den Fels, sein Rumpf ist von Flechten grün verfärbt, die Spitze mit Vogelmist weiß gesprenkelt. Nur wenn ihn der Atlantik an stürmischen Tagen überspült, wird Rockall von seiner Guanokruste befreit.

Lange interessierte sich niemand für Sgeir Rocail, die „brüllende Spitze“, wie Rockall im Gälischen heißt. Einzig als Schauplatz von Schiffsunglücken macht sie von sich reden. Die letzte dieser Katastrophen ereignete sich am 28. Juni 1904. Einige Tage zuvor war der unter dänischer Flagge fahrende Passagierdampfer „Norge“ in Kristiansand zur Überfahrt nach New York ausgelaufen, an Bord fast 800 Menschen, Auswanderer aus Skandinavien und Russland, darunter 200 Kinder und Säuglinge. Nachdem die „Norge“ den Pentland Firth zwischen Schottland und den Orkneys durchquert hatte, dampfte das Schiff mit voller Kraft Richtung Rockall. Kapitän Gundel wollte seinen Passagieren etwas Besonderes bieten und den Felsen pünktlich zum Morgengrauen in Sichtweite passieren. Die Auswanderer sollten beim Frühstück ein letztes Stückchen Europa sehen. Um 7.45 Uhr krachte die „Norge“ in voller Fahrt auf Helen’s Reef vor Rockall. Mehr als 600 Menschen ertranken, nur 170 wurden gerettet. Bis zum Untergang der „Titanic“ acht Jahre darauf sollte es das schwerste Schiffsunglück im Nordatlantik bleiben.

Dann war 50 Jahre Ruhe. Zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs rückte die britische Marine an. Am 15. September 1955 lief die HMS „Vidal“ auf die brüllende Spitze zu. Mit im Seegepäck: ein offizielles Befehlsschreiben von Queen Elizabeth II., das die Truppe autorisierte, Rockall für die Krone in Besitz zu nehmen. Ganze drei Tage musste das Empire jedoch wegen schweren Wetters warten, bis der Helikopter den Landungstrupp endlich übersetzen konnte. Am 18. September seilten sich Lieutenant Commander Scott, Sergeant Peel und Corporal Fraser auf den glitschigen Felsen ab, der kaum Platz zum Stehen bot. Mit dabei war auch James Fisher, ein bekannter Naturforscher, der ganz im Stil des Imperialismus vergangener Tage die Fauna und Flora der neuen Kolonie erkunden sollte. Doch die Mission erwies sich als schwierig. Sergeant Peel, ein erfahrener Bergsteiger, musste bis zur Wasserlinie hinunterklettern, um ein paar Algen vom Stein zu reißen.

„Ich kam nicht rechtzeitig wieder hoch, und eine Welle rollte direkt über mich hinweg“, sagte Peel später der Presse. „Dann krallte ich mir eine Handvoll Seetang, rammte sie mir in den Mund und kletterte so schnell wie möglich zurück.“ Gemäß der königlichen Order zementierten die Soldaten noch eine Messingplakette an den Felsen und hissten den Union Jack. Dann endlich die entscheidenden Worte von Lieutenant Commander Scott: „Im Namen Ihrer Majestät Queen Elizabeth II. nehme ich hiermit die Insel Rockall in Besitz!“ Die HMS „Vidal“ feuerte 21 Schuss Salut und meldete an die Admiralität: „Operation Rockall erfolgreich abgeschlossen.“ Die Antwort von Admiral Earl Mountbatten: „Well done!“

Bis heute gilt die Aktion als letzte Eroberung des Empires. Aus London hieß es später, man wolle mit der Annexion vor allem verhindern, dass die Sowjets Rockall als Spionagestützpunkt nutzen. Denn zu dieser Zeit wollten die Briten auf der Hebrideninsel South Uist hoch geheime Lenkraketen testen, die sie gerade in den USA eingekauft hatten. Und Rockall – die Insel, die niemandem gehörte – lag zu nahe, um sie einfach den Kommunisten zu überlassen.


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mare No. 97

No. 97April / Mai 2013

Von Nils Ehrenberg

Nils Ehrenberg, Jahrgang 1980, hat Meeresbiologie studiert und ist heute freier Journalist und Autor in Bremen. Als der Kapitänssohn auf alten Seekarten des Vaters Fingerinselhopping betrieb, landete er auf dem Punkt namens Rockall – und war bei seiner Recherche fasziniert, wie ein kleiner Felsen im Meer zur skurrilen Bühne eines Territorialkonflikts werden konnte.

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Vita Nils Ehrenberg, Jahrgang 1980, hat Meeresbiologie studiert und ist heute freier Journalist und Autor in Bremen. Als der Kapitänssohn auf alten Seekarten des Vaters Fingerinselhopping betrieb, landete er auf dem Punkt namens Rockall – und war bei seiner Recherche fasziniert, wie ein kleiner Felsen im Meer zur skurrilen Bühne eines Territorialkonflikts werden konnte.
Person Von Nils Ehrenberg
Vita Nils Ehrenberg, Jahrgang 1980, hat Meeresbiologie studiert und ist heute freier Journalist und Autor in Bremen. Als der Kapitänssohn auf alten Seekarten des Vaters Fingerinselhopping betrieb, landete er auf dem Punkt namens Rockall – und war bei seiner Recherche fasziniert, wie ein kleiner Felsen im Meer zur skurrilen Bühne eines Territorialkonflikts werden konnte.
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