Stehbankett in Pietros Küche

Eigentlich wollte der Koch Schauspieler werden. Jetzt unterhält er eben die Gäste seiner Trattoria in Neapel

Das Meer mag er nicht, er liebt die Berge. Pietro, 57 Jahre alt, Klischee eines Neapolitaners. Hockt da auf dem roten Plastikstuhl, den Rücken zum Publikum, und putzt über einer Schüssel Miesmuscheln; die Kippe im Mundwinkel, wie festgewachsen unter dem Schnurrbart; die schwarze Skippermütze nach hinten geschoben. Und denkt dabei wahrscheinlich an die Dolomiten.

„Doch das ist nun einmal mein Leben hier“, sagt er. Natürlich liebt er Neapel, auch wenn es am Meer liegt. Zehn Tage im Jahr verbringt er in den Bergen und meditiert. Ansonsten putzt er tagein, tagaus Muscheln. Weil das nun einmal sein Leben ist. Aber sicher auch eine Attraktion für die Gäste, die in die „Antica Trattoria“ eben gerade deshalb kommen, weil sie die familiäre Atmosphäre schätzen. Und Pietro, der einst Schauspieler werden wollte, gibt dazu das neapolitanische Original.

Was er auch wirklich ist. Denn hier kam er zur Welt, hier in der Küche, die einmal das Schlafzimmer seiner Eltern war. Geboren im Bombenhagel des Augusts 1943, als eines von 13 Kindern. Mutter Sängerin, Vater Fischer. Sein Großvater eröffnete 1890 die „Antica Trattoria“. Später übernahm sein Vater das winzige Restaurant, und Pietro half ihm – nicht lange, denn er wollte ja schließlich Filmschauspieler werden.

„Ich habe mit berühmten Leuten gearbeitet“, sagt Pietro, „hätte selbst berühmt werden können. Doch das frühe Aufstehen, jeden Morgen pünktlich am Set sein, das war nichts für mich.“ Außerdem wollte er nie weg aus Italien. Also ging er zum Vater zurück, in die Trattoria. Sein Vater ist längst tot und auch fünf seiner Brüder. Heute ist Pietro der Boss. Seine Frau kocht, Tochter Laura hilft. Das heißt, eigentlich kocht zurzeit Frank, geborener Neapolitaner, aufgewachsen in Kalifornien, der Mann von Laura. Es bleibt ein Familienunternehmen.

Draußen drängen die Gäste. Während sich die livrierten Kellner der benachbarten Edelrestaurants vor Langeweile an den leeren Tabletts festhalten, muss Laura immer neue Tische aufklappen. Die „Antica Trattoria“ lockt nicht nur Touristen. Arbeiter sitzen neben Geschäftsleuten im feinen Anzug, genießen das einfache, frische Essen, trinken den gleichen frischen Landwein aus dem nahen Baia; einen anderen gibt es sowieso nicht. Die Speisekarte variiert wenig und ist an die Hauswand gemalt: Pasta, viel Pasta. Mit Muscheln, mit Meeresfrüchten, Tintenfisch roh, frittiert. Nur regnen sollte es nicht, denn die Trattoria hat drinnen nur einen einzigen Tisch. Wenn es dann doch passiert, eilen die Gäste, Teller und Besteck in der Hand, in die viel zu enge Küche. Und essen im Stehen weiter.

Auch Schauspieler kommen öfter vorbei. Insgesamt ein bunt gemischtes Volk auf Plastikstühlen, vor Plastiktischtüchern mit Papierservietten, im Blick die Luxusyachten, die gegenüber am Steg dümpeln. Im Rücken das berühmte Castel dell’Ovo, in der Nähe soll einst die Villa des Lucullus gestanden haben.

Am späten Nachmittag, wenn die Trattoria vorübergehend geschlossen ist, versammelt sich die ganze Familie um den Tisch, über ihnen der Golf von Neapel: ein farbenfrohes Wandbild, gemalt von Frank, der mit Baseballkappe vor dem Gasherd steht und Pasta macht. Von wem hat er das Kochen gelernt? „Von mir“, behauptet Pietro. „Ach was“, sagt der Schwiegersohn, „ich habe schon in Kalifornien gekocht.“

Abends, die Trattoria hat wieder geöffnet, spiegeln sich Lichter und Sterne im Wasser des Yachthafens. Jetzt müsste eigentlich jemand „Wenn bei Capri ...“ anstimmen. Tatsächlich liegt die Insel nur 20 Fährminuten entfernt. Pietro putzt keine Muscheln mehr, raucht nur noch und erzählt den Gästen Geschichten. In den feinen Lokalen nebenan gähnen die Kellner.


Spaghetti alla Pietro

Zutaten

Knoblauch, Olivenöl, Peperoni, Petersilie, Tomaten, einfacher italienischer Weißwein, Miesmuscheln (Mengen nach Gefühl, meint Pietro).

Zubereitung

Knoblauch und Petersilie hacken, Tomaten vierteln. Knoblauch in der Pfanne in Öl andünsten, Tomaten und Wein dazugeben, rühren und auf mittlerer Flamme halten, bis sich eine Sauce ergibt; mit Peperoni würzen und Muscheln ohne Schale dazugeben. Kurz aufkochen lassen, Petersilie einstreuen. Währenddessen die Spaghetti im Topf al dente kochen. Beides zusammen in der Pfanne vermengen und auf Teller anrichten.


Antica Trattoria
Via Luculliana 27, im Schatten des Castel dell'Ovo, Neapel.
Geöffnet von 11 bis 16 und 19 bis 1 Uhr; von November bis März geschlossen.
Kein Telefon.

mare No. 28

No. 28Oktober / November 2001

Von Roland Brockmann und Riccardo Venturi

Roland Brockmann, Jahrgang 1961, lebt in Berlin als unabhängiger Journalist, Fotograf und Video Producer. Bei mare war er an den ersten internationalen Reportagen beteiligt, heute schreibt er dort vor allem Buchrezensionen. 2018 erschien sein erstes eigenes Buch: Real People of East Africa (Photo Edition Berlin).

Fotos: Riccardo Venturi

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Vita Roland Brockmann, Jahrgang 1961, lebt in Berlin als unabhängiger Journalist, Fotograf und Video Producer. Bei mare war er an den ersten internationalen Reportagen beteiligt, heute schreibt er dort vor allem Buchrezensionen. 2018 erschien sein erstes eigenes Buch: Real People of East Africa (Photo Edition Berlin).

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Vita Roland Brockmann, Jahrgang 1961, lebt in Berlin als unabhängiger Journalist, Fotograf und Video Producer. Bei mare war er an den ersten internationalen Reportagen beteiligt, heute schreibt er dort vor allem Buchrezensionen. 2018 erschien sein erstes eigenes Buch: Real People of East Africa (Photo Edition Berlin).

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