Stadt der Träume und des Todes

Rio de Janeiro erzeugt mehr als andere Städte mythische Bilder im Kopf – grandios und voller Widersprüche

Es gibt Orte auf dieser Erde, die mehr sind als ein geografischer Topos, weil eine Aura sie umweht. Werden sie genannt, entfaltet sich Magie. Etwas Mythisches scheint ins Spiel zu kommen und evoziert Bilder von der Ferne, die unwiderstehlich lockt.

Rio de Janeiro, der Name klingt wie ein Versprechen, weckt Sehnsucht und Begehrlichkeit und erzeugt Schwingungen auf den Resonanzböden des kollektiven Bewusstseins: das Tönen der Sambatrommeln im ewigen Karneval, die wiegenden Hüften schöner Mädchen, Traumstrände voller makelloser Menschen, kolportierte Erinnerungen an glamouröse, leichtlebige Tage eines größeren, verblichenen Glanzes, Tage, an denen es anders zuging als in der Gegenwart.

„Was? Du willst wirklich nach Rio?!“ Diese Frage muss sich mancher anhören, der heutzutage in die ideelle Metropole des größten südamerikanischen Landes reist, die auch daran leidet, nicht mehr wahre Metropole zu sein. Dem Neid des Fragenden ob der verbürgten Attraktivität des Ziels ist unüberhörbar Sorge um heile Heimkehr beigemischt. Diese Ambivalenz ist bezeichnend. Genuss und Gefahr sind hier enge Nachbarn – so wie sich von Beginn an die Schönheit dieses Platzes mit dem Preis des Todes verbunden hat.

Mythen beruhen manchmal auf Missverständnissen, was kein Schaden sein muss. Im Fall Rios trifft dies ironischerweise bereits auf seinen Namen zu. „Ja-nuarfluss“ tauften die portugiesischen Entdecker 1502 jenen Naturhafen in der Guanabara-Bucht, den sie fälschlicherweise für eine Flussmündung hielten, und schwärmten sogleich, „welch eine Anmut“ von dieser Gegend ausgehe. Gold und Kaffee waren die Luxusgüter, durch deren Umschlag die Stadt ihren Aufschwung nahm. Sie zog die Blicke auf sich, rührte die Fantasie der Europäer. Und als Napoleon Anfang des 19. Jahrhunderts Portugal besetzte, widerfuhr Rio ein einzigartiges Schicksal: als Stadt in einer Kolonie Sitz der Regierung des Mutterlands zu werden. Es wurde Hauptstadt des Vereinig-ten Königreichs von Portugal, Brasilien und der Algarve, Hauptstadt des Kaiserreichs Brasilien und 1889, nach dem Sturz der Monarchie, Brasiliens Bundeshauptstadt. Eine wahrlich umworbene Weltstadt.

Das neue, 20. Jahrhundert, in dem dieser Status durch die Errichtung der Christusstatue sein globales Branding bekam, rückte Rio noch stärker in ein Licht, das viele anzog wie die sprichwörtlichen Motten, von denen einer ihrer gefeierten Gäste, Marlene Dietrich, sang. Und es war ein Vorgang von hoher Symbolik, als Guglielmo Marconi, der Pionier der drahtlosen Nachrichtentechnik, 1931 von Genua aus per Knopfdruck die Scheinwerferstrahlen auf den Corcovado richtete. Rio leuchtete, in jeder Hinsicht. Es wurde schick, sich hier die Ehre zu geben, sofern man die Mittel besaß, auf diese Weise den Überdruss am wankenden Europa zu dokumentieren, wobei die Anreise per Zeppelin zeitweilig das Nonplusultra bedeutete.

Die Stadt strahlte eine eigene Kraft aus, indem sie die kulturellen, nicht zuletzt die architektonischen Ingredienzen des alten Kontinents auf ihre tropische Weise neu definierte. Strände wie Ipanema und Copacabana standen alsbald für ein Lebensgefühl, das sich von den Gewohnheiten anderswo gänzlich unterschied. Während Carmen Miranda, die Sängerin und Schauspielerin, als erste Latina-Queen das Bild der Rio-Schönheit in den USA populär machte, wurde die Stadt zum exotischen Spielplatz der Reichen, Schönen und Berühmten, zumal aus Hollywood – und blieb es lange, wobei dem legendären „Copacabana Palace“ das Privileg zufiel, den Mythos Rio im hoteleigenen Format zu repräsentieren. Wer wichtig war und in Rio weilte, war hier. Fred Astaire und Ginger Rogers sollen im „Copa“ erstmals zusammen getanzt haben. Ava Gardner, Rita Hayworth, Yves Montand und die Piaf, aber auch Könige und Präsidenten, Dichter und Denker wie Thomas Mann und Albert Einstein verschenkten hier ihren Glanz.

Politische Fragwürdigkeiten des herrschenden Systems unter Präsident Vargas blendete man in den goldenen Jahren gern aus. Stefan Zweig, der jüdische Bestsellerautor, der aus Hilter-Deutschland ins halbfaschistische Brasilien floh, verkörpert diese Haltung wie kein Zweiter. Hymnisch pries er die Vorzüge der Hauptstadt, in deren Nähe er lebte (und bald von eigener Hand starb), schwärmte, hier habe die Natur „in einer einmaligen Laune von Verschwendung von den Elementen der landschaftlichen Schönheit alles in einem engen Raum zusammengedrückt, was sie sonst sparsam auf ganze Länder verteilt“. Nach Rio könne es nur noch Enttäuschung geben. Zweigs kurzes brasilianisches Exil, das unvergessen ist im Land, mutet beinahe an wie eine Parabel auf Rio.


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mare No. 69

No. 69August / September 2008

Von Benjamin Worthmann

Der Berliner Autor Benjamin Worthmann (Mathias Zschaler) bereiste als Journalist viele Länder. Seine Schwäche für Rio de Janeiro entwickelte er eher indirekt, nämlich durch die Literatur – und nicht einmal die südamerikanische.

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Vita Der Berliner Autor Benjamin Worthmann (Mathias Zschaler) bereiste als Journalist viele Länder. Seine Schwäche für Rio de Janeiro entwickelte er eher indirekt, nämlich durch die Literatur – und nicht einmal die südamerikanische.
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Vita Der Berliner Autor Benjamin Worthmann (Mathias Zschaler) bereiste als Journalist viele Länder. Seine Schwäche für Rio de Janeiro entwickelte er eher indirekt, nämlich durch die Literatur – und nicht einmal die südamerikanische.
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