So ein Glück

Auf der estnischen Ostseeinsel Kihnu haben die Frauen das Sagen. Und das gefällt nicht zuletzt auch ihren Männern.

Als sich das Patrouillenboot Ihrer Majestät, die HMS „Trumpeter“, auf den letzten Metern vor der Kaimauer aus dem Dunst schiebt, regnet es auf Kihnu. Die Tropfen schlagen Blasen auf dem gefluteten Inselboden. Ülle Tapp vom Kastanienhof rafft den nassen Saum ihres Rockes zusammen. „Gutes Wetter. Wenigstens kein Sturm.“ Dann tanzt sie mit sechs anderen Frauen. Denen ist der Regen auch egal. Sie drehen sich so schnell im Kreis, dass die Röcke hochfliegen.

Sie tanzen, als die „Trumpeter“ anlegt, danach die „Explorer“, die „Pursuer“, die „Biter“. Vom Deck des ersten Schiffes winkt der britische Botschafter in Estland. Als er von Bord geht, empfängt ihn Mare Mätas, Herrin der Insel. Er sagt: „Sie haben eingeladen, wir sind gekommen.“

Seit mehr als zehn Jahren ist Mare Mätas Vorsitzende der Kihnu-Kulturstiftung. Sie zählt stumm die strammstehende Mannschaft. Mit knapp 20 Matrosen hatte sich die Royal Navy angekündigt. Gut doppelt so viele sind gekommen. Und wie die jetzt unterbringen auf Kihnu? „Geht zu Heia vom Miku-Hof“, sagt Mare Mätas leise zu den anderen Frauen. Zu Taimi vom Hof Ranniku, zu Helma, Ülo, Evi und vielen anderen. Sie müssen ihre Stuben räumen. Auf Kihnu ist das so: Die Frauen organisieren. Und selbst gestandene Seemänner gehorchen.

Kihnu: eine von den mehr als 1500 Inseln im trüben Ostseewasser vor Estlands Küste. Nur 20 Minuten auf dem Fahrrad vom Nord- bis zum Südstrand. Dazwischen: lichtdurchfluteter Nadelwald, auf den Wiesen Heuballen als Ausguck, die Kormorane fliegen tief. Vier Dörfer, 400 Einwohner, ungenutzte Schlösser an den Türen, eine Kreuzung, an der irgendwann jeder ankommt. Und stehen bleibt, weil dort der Inselladen Wurst und Bonbons verkauft.

Hinter der Ladentheke steht selbstverständlich eine Frau, Heleri Vahkel, die Inhaberin. Sie sagt: „Das Leben auf der Insel hat uns hart gemacht.“ Die Frauen führen das Wort auf Kihnu. So war es schon zu alten Zeiten, und so ist es bis heute geblieben. Die Insel gilt als eine der weltweit letzten matriarchalen Gemeinschaften. Seit 2003 gehört Kihnu zum Weltkulturerbe der Unesco.

Jedes Jahr im Juli, zur Zeit der Blumenteppiche, Walderdbeeren und Vogeljungen in den Nestern: das große Inselfest. „Mere Pidu“, Fest des Meeres. Die Frauen laden ein. Feiern den Sommer, die kurzen Nächte, vor allem sich selbst. Fähren legen an neben den Segelbooten, an Bord 100 Menschen, zwölf Sack Zement, der Leuchtturm braucht neuen Halt.

Mare Mätas hat den britischen Botschafter vor ein paar Monaten in Tallinn getroffen. Er war schon einmal auf Kihnu, Mätas musste ihn nicht lange bitten, Ehrengast beim Sommerfest zu sein. Seine einzige Bedingung: Dieses Mal dürfe er seine Familie mitbringen. Und die Royal Navy. Britische Matrosen treffen estnische Seemannsbräute.

Eine Insel wie Kihnu verlasse man nicht so einfach, sagt Maria Michelson, die Geigenlehrerin von Kihnu, 27 Jahre jung, die Enden des Kopftuchs unter dem Kinn zusammengebunden. Sie denkt nicht daran fortzugehen. Der Mann, der sich in sie verliebte, musste zu ihr auf die Insel ziehen. Alle nennen sie „unsere Marie“.

Marie singt an diesem ersten regenschweren Tag des Inselfests. „Auf dem Meer raufen die Männer mit den Wellen. Und wissen sehr gut: Zu Hause wartet die Frau, die ihre Sorgen verschwinden lässt.“

Die Frauen von Kihnu haben das Warten längst satt. Im Gemeinderat der Insel sind sie mit vier zu drei in der Überzahl. Im Kulturrat steht es acht zu vier. Erst wenn die Frauen meinen, der alte Hafen in dem Dorf Lemsi müsse endlich renoviert werden, rücken die Bagger an.

Als Mare Mätas am nächsten Morgen die Fensterläden aufschlägt, ihr Motorrad aus dem Schuppen schiebt, steht die Sonne über Kihnu, der Wald dampft und duftet noch nach feuchten Nadeln. Das Motorrad springt nicht an, die Nachbarin muss aushelfen, das dauert. Und so ist Mare Mätas wieder einmal spät, als sie der Kreuzung entgegenschlingert. Die Motorradparade der Frauen von Kihnu kann beginnen. Fast jede von ihnen besitzt ein Motorrad mit Beiwagen, zickige Teufelsmaschinen, sowjetische Bauart. Mare Mätas verteilt Helme an die Frauen. „Ist ja eigentlich Quatsch“, sagt sie. Weil sie doch vorsichtig fahren. Und weil die Inselstraßen ohnehin nicht fürs Rasen gemacht sind. Das Schönste an Kihnu sei die Unabhängigkeit, sagt Mare Mätas.

Aber im vergangenen Jahr hatte ein Besucher die helmlose, kopftuchtragende Parade gefilmt. Später trug Marge von der Inselpost Strafzettel der Polizei aus.


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mare No. 119

No. 119Dezember 2016 / Januar 2017

Von Diana Laarz und Fabian Weiss

Diana Laarz, geboren 1982, lebt in Hamburg. Für deutschsprachige Magazine berichtet sie vor allem aus dem Osten Europas. Von den mehr als 1500 Inseln Estlands hat sie erst eine besucht. Das macht aber nichts, denn Kihnu gilt als schönste aller estnischen Inseln.

Fabian Weiss, Jahrgang 1986, ist freier Fotograf, Kameramann und visueller Geschichtenerzähler. Er arbeitet neben seiner Lehrtätigkeit in Hamburg vorwiegend im Baltikum, in Osteuropa und weiter östlich. Seine fotografische Arbeit umkreist oft Themen der Jugend und Leben im Umbruch. Er ist Mitglied der Bildagentur Laif und des Vereins Froh!, der innovative journalistische Projekte im Bereich des partizipativen Journalismus entwickelt.

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Vita

Diana Laarz, geboren 1982, lebt in Hamburg. Für deutschsprachige Magazine berichtet sie vor allem aus dem Osten Europas. Von den mehr als 1500 Inseln Estlands hat sie erst eine besucht. Das macht aber nichts, denn Kihnu gilt als schönste aller estnischen Inseln.

Fabian Weiss, Jahrgang 1986, ist freier Fotograf, Kameramann und visueller Geschichtenerzähler. Er arbeitet neben seiner Lehrtätigkeit in Hamburg vorwiegend im Baltikum, in Osteuropa und weiter östlich. Seine fotografische Arbeit umkreist oft Themen der Jugend und Leben im Umbruch. Er ist Mitglied der Bildagentur Laif und des Vereins Froh!, der innovative journalistische Projekte im Bereich des partizipativen Journalismus entwickelt.

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Diana Laarz, geboren 1982, lebt in Hamburg. Für deutschsprachige Magazine berichtet sie vor allem aus dem Osten Europas. Von den mehr als 1500 Inseln Estlands hat sie erst eine besucht. Das macht aber nichts, denn Kihnu gilt als schönste aller estnischen Inseln.

Fabian Weiss, Jahrgang 1986, ist freier Fotograf, Kameramann und visueller Geschichtenerzähler. Er arbeitet neben seiner Lehrtätigkeit in Hamburg vorwiegend im Baltikum, in Osteuropa und weiter östlich. Seine fotografische Arbeit umkreist oft Themen der Jugend und Leben im Umbruch. Er ist Mitglied der Bildagentur Laif und des Vereins Froh!, der innovative journalistische Projekte im Bereich des partizipativen Journalismus entwickelt.

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