Sing ein Lied für den Ozean

Wer eigentlich schrieb die Rock-Songs über die Seefahrt? Eine Bestandsaufnahme

Die Sterne leuchten schon seit Tagen nicht mehr. Das Ruder ist gebrochen. Backboard ist ein Riesen-Leck. Die Mannschaft ist müde. Der Steuermann tot. Und keiner weiß, ob ein Funker an Bord ist oder wie der Notruf heißt: „War’s nicht SDI oder CIA oder Save Our Money oder USA?“ Allein ein „Blinder Passagier“ erfährt: „Das Ziel unserer Reise ist nicht weit von hier.“

Mit dem Song vom blinden Passagier, der sich aufs falsche Schiff geschlichen hat, beschwor Rio Reiser 1987 die apokalyptische Seite der Seefahrt. Und wie ein blinder Passagier kam sich der „König von Deutschland“ auch vor, als er Mitte der 80er Jahre den alternativen Hafen verlassen und auf einem Musikdampfer der Unterhaltungsindustrie angeheuert hatte. Es war nicht das erste Mal, dass sich der gebürtige Berliner so weit aufs Meer hinauswagte. Bereits 1975 hatte Reiser mit der Polit-Rock-Band Ton Steine Scherben „Land in Sicht“ gerufen. Das Schiff der musikalischen Rädelsführer hieß damals „Hoffnung“, und im Song „Komm an Bord“ wähnten sie die Zeit auf ihrer Seite. Obwohl man die Lieder noch in Berlin aufgenommen hatte, wurden sie von dogmatischen Linken als Indiz für die Landflucht der Gruppe ins nordfriesische Fresenhagen und ihre angebliche innere Emigration gewertet.

Dort, auf dem Bauernhof, auf dem heute ein bunter, gläserner Leuchtturm das Grab des 1996 an Land gestorbenen Sängers ziert, nahmen die Scherben ein Jahr später ein Hörspiel für Kinder auf, in dem es nur so von Piraten wimmelte – „Teufel hast du Wind“. Und dort schrieb Reiser 1987 auch – seinen Onkel Robert, den einzigen Seemann seiner Familie, vor Augen – die Ballade „Übers Meer“, in der er den Trennungsschmerz zweier Verliebter unübertroffen auf den Punkt brachte.

Von Kindesbeinen an war Reiser alias Ralph Möbius eingenommen von der Seefahrt. Mit seinen Brüdern verwandelte er das Kinderzimmer in das Schiff des Piraten Errol Flynn. Begeistert las er Melvilles Geschichte vom Killerwal „Moby Dick“, die er später als Rock-Oper inszenieren wollte – ein ehrgeiziges Vorhaben, das dieser begnadete Songwriter leider nicht mehr realisieren konnte. Immer wieder zog es ihn zu den Hamburger Landungsbrücken, wo „die Sehnsucht nach Fernweh greifbar“ wird. Und möglicherweise war Reiser, der sich bereits Mitte der 70er Jahre als Schwuler geoutet hatte, auch erotisch fasziniert von Matrosenchören, die in hübschen Anzügen melancholische Shanties sangen. Die Liebe war indes rein platonisch. Abgesehen von zwei Kreuzfahrten, an denen er als Tourist teilnahm, ist Reiser nie zur See gefahren.

Dass er trotzdem so wundervolle Songs „für den Ozean“ schrieb, ist so ungewöhnlich allerdings nicht. Kommen doch auch die meisten Marinesoldaten der Bundeswehr nicht von der Küste, wie ein Sprecher der Hardthöhe bestätigt, sondern „aus südlichen Bundesländern“. Und schließlich wurden auch die meisten Seemannslieder von ausgewiesenen Landratten gesungen. So sorgte sich die Österreicherin Lolita 1960 mit dem Schlager „Seemann, deine Heimat ist das Meer“ um das Selbstwertgefühl des deutschen Mannes. Die aus St. Pölten stammende Volksmusikerin appellierte an die Frauen, auf den kriegsbedingt erworbenen Einfluss zu verzichten, an den Herd zurückzukehren und für die demoralisierten Kriegsheimkehrer Opfer zu bringen. Und es war der Wiener Franz Eugen Helmut Manfred Nidl-Petz, besser bekannt als Freddy Quinn, der in den 60er Jahren mit Schlagern wie „Junge, komm bald wieder“, „Die Gitarre und das Meer“ oder „Unter fremden Sternen“ das Heim- und Fernweh der Deutschen artikulierte. Immerhin war Freddy Nidl-Petz zur See gefahren, bevor er sich in die Herzen aller Mütter sang, die sich um ihre Söhne sorgten und Angst hatten, nach diesem verdammten Zweiten Weltkrieg ganz allein dazusitzen: „Denk auch an morgen, denk auch an mich!“

Im Gegensatz zu Freddy ist Udo Lindenberg nie über Sylt hinausgekommen. Nachdem sein Jugendfreund Herm Eiling, der als Schiffssteward auf dem „Erdumkreisungsdampfer Europa“ unterwegs war, ihm „obergeile Postkarten aus allen Ecken und Winkeln der Welt“ geschickt hatte, war es aber auch um ihn geschehen. „Er schrieb immer, wie toll es hier und da“ war, erinnert sich der Panik-Rocker, „besonders im Vergleich zu Gronau“, dem kleinen westfälischen Kaff, in dem die beiden aufgewachsen waren.

Lindenberg eiferte dem älteren Freund nach, wollte auch „Möwendompteur“ oder Schiffssteward werden, in Acapulco dann allerdings von Bord gehen, um die Schlagzeuglegende Gene Krupa persönlich kennenzulernen. Dazu kam es jedoch nie. Lindenberg blieb in Hamburg hängen, saß viel in Hafenkneipen rum und schrieb seine Texte auf Bierdeckel, so wie ein Seemann sein Logbuch führt: „Mit einem Auge auf die Bommerlunder-Flasche, mit dem anderen immer wieder über die Elbe, den hinausfahrenden Schiffen hinterher.“ Im „Brausebrand“ wurde ihm irgendwann klar, „dass es überhaupt keine richtigen deutschen Texte gab“. Bei Rum mit Tee erfand er den Deutsch-Rock.

Auf seinem Album „Daumen im Wind“ sang er 1972 erstmals vom „Meer der Träume“. Es folgte die Geschichte vom alten Käpt’n, der nicht mehr zur See fuhr und so lange den Rum prüfte, bis die Boote im Hafen festmachten und er sich übern Deich schleppte: „Er will nicht, dass die anderen sagen, er kann ja wirklich nicht mehr viel vertragen.“ Mal träumte er davon, ein Segelboot zu klauen, dann saß er wieder den ganzen Tag an den Docks und dachte an „Jamaika“ oder „Bremerhaven“. Oder er begab sich mit der „MS Odyssee“ bei „Lindstärke 10“ durch den „Lindischen Ozean“. Ein „Rocker auf ewiger Seefahrt“.

Sein Vorbild war Hans Albers, der in den 80er Jahren endgültig zur Kultfigur werden sollte, als Hannes Kröger alias Alexander Walbeck den „blonden Hans von der Reeperbahn“ im Disco-Rhythmus wiederauferstehen ließ. Udos Schiff war die „Andrea Doria“, er selbst nannte sich „Matrose Lockerlose mit der Beule in der Hose“ und charakterisierte sich als „Admiral, der immer wieder versucht, sein Schiff ins nächste Jahrtausend rüberzuschieben – beladen mit kostbaren Liedern“.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 6. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 6

No. 6Februar / März 1998

Von Hollow Skai

Hollow Skai lebt seit 1993 in Hamburg-Altona, ist aber ebenfalls eine Landratte – er wurde in Sarstedt/Hannover geboren und schreibt u.a. für den Rolling Stone. Seine „Skai Channel“-Kolumne erscheint monatlich im Internet: http://www.skaichannel.de

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Vita Hollow Skai lebt seit 1993 in Hamburg-Altona, ist aber ebenfalls eine Landratte – er wurde in Sarstedt/Hannover geboren und schreibt u.a. für den Rolling Stone. Seine „Skai Channel“-Kolumne erscheint monatlich im Internet: http://www.skaichannel.de
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Vita Hollow Skai lebt seit 1993 in Hamburg-Altona, ist aber ebenfalls eine Landratte – er wurde in Sarstedt/Hannover geboren und schreibt u.a. für den Rolling Stone. Seine „Skai Channel“-Kolumne erscheint monatlich im Internet: http://www.skaichannel.de
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