Sein eigenes Reich

Für Wirbel sorgte Leicester Hemingway, der kleine Bruder von Ernest und wie dieser ein Schriftsteller, mit einem gewagten Spleen. Vor Jamaikas Küste gründete er auf einem Floß die Mikronation New Atlantis

Am 4. Juli 1964 wirft Leicester Hemingway fünf Kilometer vor der Küste Jamaikas einen alten Ford-Motor ins 15 Meter tiefe Wasser. Er befes­tigt ein knapp drei mal zehn Meter großes Bambusfloß an dem versenkten Gusseisen­block. Eine Waggonachse, ein paar Stahlrohre und Felsen dienen als zusätzliche Anker. Auf dem Schwimmkörper finden sich prompt Vogelexkremente. Nach dem „Guano Islands Act“, einem noch heute gültigen Gesetz von 1856, kann jede unbewohnte Insel, auf der ein Bürger der Vereinigten Staaten Guano findet, zu US-Territorium erklärt werden. Hemingway nimmt die nördliche Hälfte des neu geschaffenen Eilands für die USA in Besitz und gründet auf dem südlichen Teil des Floßes einen neuen Staat: New Atlan­- tis. Die künstliche Insel, 18 Grad Nord, 78 Grad West, liegt drei Meilen vor Lunar Point, Jamaika, in internationalen Gewässern. Es war eine legitime, wenn auch von niemandem an­erkannte Staatsgründung.

Leicester Hemingway kam 16 Jahre nach seinem Bruder Ernest am 1. April 1915 in Oak Park, Illinois, als sechstes und letztes Kind von Grace und Clarence ­Hemingway zur Welt. Die Familie war an­gesehen in der konservativen Gemeinde nahe Chicago; der Vater Arzt, die Mutter Opernsängerin. Der spätere Nobelpreisträger wurde von der Familie „Stein“ gerufen, nach der Schriftstellerin Gertrude Stein, Leicester nannten sie „Baron“. Der Jüngere musste Geige spielen, Ernest Cello. „In der viktorianischen Zeit galt Kindererziehung als höchste Verpflichtung gegenüber Gott“, erinnerte sich Leicester später in einem Radiointerview. Großvater Anson schenkte den Knaben Gewehre, beide wurden begeisterte Jäger und Angler. Mit 18 bekam Leicester von den Eltern Geld, wahlweise, um aufs College zu gehen oder die Welt kennenzulernen. Er baute sich die sechs Meter lange „Hawk Shaw“, segelte den Mississippi hinab und weiter nach Key West. Dort lebte sein großer Bruder und schrieb gerade den Roman „Haben oder Nichthaben“. Leicester hatte ähnliche Interessen wie Ernest: Reisen, Angeln, Schreiben. Er schrieb Bücher, verfasste Beiträge für Zeitungen und gab in den letzten Jahren seines Lebens die „Bimini Out Island News“ heraus.

Auf den Gewässern um die Bahamas verbrachten auch seine beiden Töchter ­Hilary und Anne ihre ersten Jahre. „Mein Vater war ein beeindruckender Mensch mit einem fröhlichen Lachen. Er hatte den Bauch, den wir anscheinend alle geerbt haben. Und er trug einen großen, buschigen Bart“, erzählt Anne Feuer, geborene Hemingway. „Er sah ein wenig wie der Weihnachtsmann aus, genau wie sein Bruder.“ „Als Kinder lebten wir zwei Jahre auf einer 20-Meter-Yacht. Darauf lernte ich laufen“, erinnert sich die vier Jahre jüngere Hilary. „Ich war zwei Wochen alt, als wir auf das Boot zogen. Wir segelten nach Jamaika, damit Papa seinen Traum erfüllt. Ich war zwei Jahre alt, als wir das Boot verließen, und konnte endlich lernen, wie man an Land läuft. Deshalb laufe ich heute wie eine Ente.“

Hilary Hemingway lebt in Cape Coral, Florida, in einem von Kanälen durchzogenen Vorstadtidyll. Ihre Schwester Anne kommt einmal die Woche zu Besuch. Es ist mittags, die Sonne strahlt hell, im Halbdunkel der Wohnung krächzt ein Papagei. Ein paar Kis­ten stehen herum mit den Papieren des Vaters: Zeitungsartikel, die Verfassung des Staates New Atlantis, New-Atlantis-Briefmarken. Mit ihnen sollte ein Meeresinstitut auf New Atlantis finanziert werden, betrieben auf neben dem Floß versenkten Betonschiffen.

Hilary zeigt ein Foto. Ein Mann in Shorts hält einen gewaltigen Fisch in die Kamera. Der Bart, der Bauch, die Pose – es könnte auch Ernest sein. „Unser Vater hat nur geangelt, was er auch essen wollte. ­Ernest hat ja jedes Tier geschossen, das ihm begegnete. Selbst Haie hat er mit einer Maschinenpistole gejagt.“
Hilary zieht einen Brief aus der Kiste. „Wie werde ich mein eigener Huck Finn?“ Sie trägt ihn mit Ernst vor, den Text kann sie beinahe auswendig. „Das Leben auf einem Floß kann ein ganz neues Leben schaffen. Ein Floß ist groß genug, um ein Nickerchen zu halten, um darauf zu angeln, sich treiben zu lassen und darauf zu essen. Was ist das Gute an einem Floß? Du baust etwas, was nur dir gehört, es macht dich frei, lässt einfache Gedanken zu, Träume kommen, du kannst es genießen, nutzen, bewundern, und du kannst es jederzeit verlassen und fortgehen. Ein Floß braucht nur ein paar Stunden Glück und Hingabe, um es zu bauen, und wenn du fertig bist, hat es dich nichts gekostet. Am zweiten Tag kannst du ein Segel aufziehen oder ein Zelt errichten. Du kannst ein Abenteuer erleben, du wirst irgendwo auftauchen und viele neue Freunde treffen. Ein Floß zu bauen ist wie ein eigenes Land schaffen.“


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mare No. 120

No. 120Februar / März 2017

Von Lorenz Schröter

Lorenz Schröter, Jahrgang 1960, radelte um die Welt und bereiste dabei 113 Länder. Sein Buch Das kleine Kielschwein, 2006 im mareverlag erschienen, wurde in sieben Ländern veröffentlicht. 2007 erschien Das kulinarische Kielschwein, 2008 Die kleine Kielsau.

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Vita Lorenz Schröter, Jahrgang 1960, radelte um die Welt und bereiste dabei 113 Länder. Sein Buch Das kleine Kielschwein, 2006 im mareverlag erschienen, wurde in sieben Ländern veröffentlicht. 2007 erschien Das kulinarische Kielschwein, 2008 Die kleine Kielsau.
Person Von Lorenz Schröter
Vita Lorenz Schröter, Jahrgang 1960, radelte um die Welt und bereiste dabei 113 Länder. Sein Buch Das kleine Kielschwein, 2006 im mareverlag erschienen, wurde in sieben Ländern veröffentlicht. 2007 erschien Das kulinarische Kielschwein, 2008 Die kleine Kielsau.
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