Seepferdchen – die besseren Delfine

Der Tümmler hat als Kult-Tier ausgedient. Sein Nachfolger erfüllt alle Anforderungen an ein politisch korrektes Tier

Kult-Tiere wechseln mit dem Zeitgeist. die alten Germanen verehrten den gemütlichen Bären. Im frommen Geistesleben des Mittelalters suchte man nach dem weltentrückten Einhorn. Das deutsche Kaiserreich formierte sich hinter dem Adler. Später zeichneten die Nationalsozialisten ihren Raubvogel noch aggressiver und erhoben den Wolf zum geistigen Leittier. Er sollte die fügsamen Lämmer beherrschen und die minderwertigen Ratten vernichten.

Nachdem die Adler in Asche lagen und die Wölfe sich verkrochen, hatten die meisten Überlebenden die Nase voll von heroischen Ideologien. Das Volk privatisierte und genoss im Westen das Wirtschaftswunder, der Dackel avancierte zum heimlichen Wappentier deutscher Gemütlichkeit. Später fanden die Söhne und Töchter der Dackelbesitzer Vatis Reihenhaus viel zu eng. Obwohl verbissen anti-amerikanisch, war die rebellierende Jugend den subtilen Einflüssen des Kulturimperialismus auf den Leim gegangen. Und eines der Leitbilder aus dem Reich von Coca- Cola und Rock’n’Roll hieß Flipper.

Der nette Meeressäuger aus Florida war stets gut gelaunt und immer auf der Seite des Guten. Der Intellekt war seine Waffe und sein Kampf gewaltfrei. Höchstens war mal ein Nasenstüber fällig. Sein Umgang mit Artgenossen gestaltete sich anscheinend friedlich, sozial und harmonisch. Flipper war aufregend exotisch, trug ein cooles Kiffergrinsen auf den Lippen und lebte in einer Welt ganzjährigen Urlaubs. Kurzum: ein Tier, das die Hippie-Werte der siebziger Jahre verkörperte.

Als diese Werte in den folgenden Jahrzehnten die kulturelle Hegemonie eroberten, schwammen Flippers Artgenossen strom-linienförmig mit. Greenpeace-Helden, Esoterik-Gurus und andere Idole fütterten ihre Gemeinden mit allerlei Gesinnungskitsch, der zügig auch den Delfinen angedichtet wurde. „Der Geist aus den Wassern“ hieß die kultige Delfinbibel des anbrechenden Wassermann-Zeitalters. Delfine waren die besseren Menschen.

Doch auf der Höhe des Ruhms begann das übermenschliche Image der Meeressäuger zu bröckeln. Zuerst waren es nur harmlose Details, zum Beispiel das ewige Lächeln des Delfins: Es ist anatomisch bedingt und sagt nichts über die Gemütslage der Tiere aus. Wenig später stellte sich heraus, dass die marinen Geistesgrößen nicht mehr Verstand besitzen als Nachbars Lumpi.

Und dann kam es knallhart. An der britischen Küste wurden tote Schweinswale (eine kleine Delfin-Spezies) angespült. Bissspuren führten zu den Mördern: Große Tümmler, die bekannteste Delfin-Art, zu der auch Flipper zählte. Offenbar quälten und töteten sie ihre kleinen Verwandten nur so zum Zeitvertreib. „Mythen leben von der Unkenntnis derer, die sie pflegen“, kommentiert der Wissenschaftsjournalist Urs Willmann den moralischen Verfall des Delfins. Flipper und die Seinen stürzten immer tiefer: Männliche Tiere wurden als Kindsmörder entlarvt, weil sie den Nachwuchs von Konkurrenten umbringen. Und schließlich beobachteten Forscherinnen bei Großen Tümmlern brutale Gruppenvergewaltigungen. Die letzten Verehrer der populären Waltiere wandten sich mit Grausen ab.

Wer aber wird Flippers Platz einnehmen? Was muss ein politisch korrektes Tier heute bieten? Wer verkörpert die Werte der neuen Frau, des neuen Mannes? In welchem Winkel des Tierreichs ist der rot-grüne Moralkodex zu Hause? Gibt es in der Wildnis feministische, multikulturelle, ökosoziale Geschöpfe? Welche zeitgeistigen Qualitäten müsste ein würdiger Nachfolger des Delfins bieten?

Am wichtigsten ist der Opferstatus. Jede Interessengruppe versucht sich heute als Opfer der Gesellschaft zu profilieren, um aus Mitleid Privilegien jeglicher Art zu schinden. Das neue Guttier sollte also bedroht sein, möglichst durch multinationale Konzerne, Globalisierung oder Gen-Soja. Es müsste einen Hauch romantischer Wildheit ausstrahlen, aber natürlich gewaltfrei sein, also möglichst ein Pflanzenfresser. Gut, wenn es – wie die singenden Wale – eine kulturelle Leistung erbrächte. Aber es dürfte dabei nicht allzu putzig und kuscheltierhaft wirken, denn die Liebe zu Koalas und Rehkitzen überlässt der Bildungsbürger dem niederen Volk. Die Zugehörigkeit zu sexuellen Minderheiten schafft Sympathie, also sollte das Tier ein abweichendes Fortpflanzungsverhalten aufweisen.

Nachdem der Delfin sich als Vergewaltiger diskreditierte, ist es besonders wichtig, dass das neue Guttier ins feministische Weltbild passt. Frauen sind das aufstrebende Geschlecht. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts machten bereits mehr Mädchen als Jungen das Abitur, und die Festungen des Machismos wurden eine nach der anderen geschleift. Den moralischen Diskurs der Zukunft werden vornehmlich Frauen bestimmen. Platzhirsche, geile Böcke, eitle Gockel oder Chauvi-Schweine sind als tierische Leitbilder heute ohne Chance.


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mare No. 21

No. 21August / September 2000

Ein Essay von Michael Miersch

Michael Miersch, Jahrgang 1956, beschäftigt sich als Autor und Filmemacher besonders mit Tieren. U. a. verfasste er Das bizarre Sexualleben der Tiere (1999) und war Mitautor von Life counts. Eine globale Bilanz des Lebens (2000). In mare No. 3 schrieb er über die See-Elefanten von Kalifornien

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Vita Michael Miersch, Jahrgang 1956, beschäftigt sich als Autor und Filmemacher besonders mit Tieren. U. a. verfasste er Das bizarre Sexualleben der Tiere (1999) und war Mitautor von Life counts. Eine globale Bilanz des Lebens (2000). In mare No. 3 schrieb er über die See-Elefanten von Kalifornien
Person Ein Essay von Michael Miersch
Vita Michael Miersch, Jahrgang 1956, beschäftigt sich als Autor und Filmemacher besonders mit Tieren. U. a. verfasste er Das bizarre Sexualleben der Tiere (1999) und war Mitautor von Life counts. Eine globale Bilanz des Lebens (2000). In mare No. 3 schrieb er über die See-Elefanten von Kalifornien
Person Ein Essay von Michael Miersch