Es ist der 5. Oktober 2011, ein Mittwochabend. John de Vries sitzt an seinem Computer, er ist auf dem Sprung in den Feierabend, zur Familie. Plötzlich ploppt diese E-Mail auf. De Vries liest. Sofort weiß er: Diese Geschichte wird groß. Ein Containerschiff namens „Rena“ ist frontal in ein Korallenriff vor Neuseeland gefahren. 236 Meter Stahl stecken im Astrolabe Reef fest. Wegen der extremen Schräglage des Schiffes könnten viele der 1368 Container jeden Moment ins Meer stürzen. Der Kapitän hat bereits „Mayday“ abgesetzt, die Crew wird evakuiert. An Bord befindet sich Gefahrgut. Schweröl strömt aus den Tanks ins Meer. Und das alles im schlimmsten Unwetter.
De Vries greift zum Telefon, ruft seine Frau an: kein Abendessen mit dir heute Abend. Stattdessen gibt es eine hastige Pizza vom Lieferservice im Büro. Er schnappt sich sein Handy, trommelt seine Kollegen zusammen und eilt mit ihnen die Treppe hoch, in ein Büro im zweiten Stock. Das ist der „War Room“: Weltkarte an der Wand, Fernseher, auf denen schon Nachrichtensendungen aus Neuseeland laufen. Telefone, Computer, Faxgeräte. Das Team berät die Lage, beugt sich über Karten: Von wo kann ein Schwimmkran kommen? Wo genau sind die Öltanks?
Die Stimmung ist angespannt. Jede Minute zählt. De Vries’ Team arbeitet für Svitzer, eines der weltweit führenden Bergungsunternehmen mit rund 120 Mitarbeitern. Es gilt, dem Schiffseigner zügig ein gutes Angebot für die Bergung zu machen. „Emergency Response“ steht auf de Vries’ Visitenkarte, erste Hilfe.
De Vries ruft im Svitzer-Büro in Sydney an. Er scheucht einen Kollegen auf. Der muss um fünf Uhr morgens ins erstbeste Flugzeug nach Neuseeland steigen und sich zur „Rena“ durchschlagen. Jetzt werden aktuelle Fotos und Videos gebraucht.
Noch ist kein Vertrag unterschrieben, kein Handschlag gemacht. Doch die Chancen für Svitzer, den Bergungsauftrag zu bekommen, stehen nicht schlecht. Erzrivale Smit, der Marktführer, hat in dieser Ecke der Welt kein Lager. Smit müsste das Equipment teuer einfliegen.
De Vries ruft den Schiffseigner an, eine griechische Reederei. Die schnelle Präsenz führt zum Erfolg. Svitzer bekommt den Zuschlag. De Vries läutet die alte Schiffsglocke im ersten Stock, ein jahrzehntealtes Ritual der Firma. Es bedeutet: Wir haben den Job.
Es ist das Geschäft mit dem Unglück der anderen. Wenn ein Frachter wie die „Rena“ auf ein Korallenriff läuft, wenn ein Kreuzfahrtschiff wie die „Costa Concordia“ an einem Fels entlangschrammt und fast sinkt, dann beginnt das Buhlen um den Bergungsauftrag. Die Öffentlichkeit bekommt von dem Geschacher und Gefeilsche im Hintergrund nichts mit. Oft zeigen Fernsehnachrichten oder Zeitungen nur ein paar Bilder eines havarierten Schiffes, mehr nicht.
Das ist kein Zufall. Diskretion gehört zu den wichtigsten Tugenden in der Branche. Namen von Havaristen oder gar den Schiffseigner zu nennen ist tabu. Welcher Reeder will schon den Namen seines Unglücksschiffs in der Zeitung lesen? Die Berger halten sich daran – es sei denn, die Fälle sind so spektakulär wie die Unfälle der „Rena“ oder „Costa Concordia“. Dann rücken die Firmen widerwillig mit wenigen Zahlen und Details heraus. In der Branche gilt: Wer heute plappert, bekommt morgen den Auftrag nicht.
Während de Vries spät nach Mitternacht nach Hause fährt, beginnt ein Bergungsteam auf der anderen Seite des Globus mit der Arbeit. Weltweit unterhält Svitzer, eine Tochter der dänischen Unternehmensgruppe A. P. Møller-Mærsk, mehr als ein Dutzend Warenlager, eines davon liegt in Sydney. Die Mitarbeiter ordern eine Boeing 747, um Equipment nach Neuseeland zu schaffen. Im Lager verladen Mitarbeiter azurblaue Stahlcontainer auf einen Lkw und fahren zum Flughafen.
Diese Kisten sind etwa einen Kubikmeter groß und tragen Kürzel wie „Air10A“. Sie gehören zum System Svitzer. Gleicher Code, gleicher Inhalt – egal, ob in Amsterdam, Trinidad oder Kapstadt. Wer eine Kiste mit „Air10A“ ordert, der weiß, er bekommt definitiv Ölpumpen, Taue und Karabinerhaken. So entfallen aufwendige Packlisten, das spart Zeit. Vier dieser maritimen Arztkoffer reichen aus, um die Hälfte aller Bergungen zu stemmen. Bei der „Rena“ werden es am Ende deutlich mehr sein.
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Beim Besuch der Svitzer-Zentrale verriet ein Techniker der Berliner Journalistin Marlies Uken, Jahrgang 1977, die beliebtesten Souvenirs der Berger: die knallroten Rettungsringe der geborgenen Schiffe. Allein in der Reparaturhalle hingen Dutzende davon an der Wand.
Vita | Beim Besuch der Svitzer-Zentrale verriet ein Techniker der Berliner Journalistin Marlies Uken, Jahrgang 1977, die beliebtesten Souvenirs der Berger: die knallroten Rettungsringe der geborgenen Schiffe. Allein in der Reparaturhalle hingen Dutzende davon an der Wand. |
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Person | Von Marlies Uken |
Vita | Beim Besuch der Svitzer-Zentrale verriet ein Techniker der Berliner Journalistin Marlies Uken, Jahrgang 1977, die beliebtesten Souvenirs der Berger: die knallroten Rettungsringe der geborgenen Schiffe. Allein in der Reparaturhalle hingen Dutzende davon an der Wand. |
Person | Von Marlies Uken |