Schneegestöber im Ozean

Abgestorbene Algen und Zooplanktonkot rieseln unablässig von oberen Schichten der Ozeane hinab zum Meeresgrund. Erst jetzt erkennt die Biologie die Bedeutung dieses Meeresschnees

Die Bullaugen der „Maria S. Merian“ eröffnen einen Blick auf die windgepeitschte Grönlandsee. Hin und wieder stößt eine mächtige Fontäne aus dem Meer. Vermutlich sind es Blauwale, die jetzt im Sommer am Rand des Arktischen Ozeans tonnenweise Plankton aus dem Wasser filtern. Im Inneren des Schiffs sitzt Morten Iversen im Halbdunkel an einer Laborbank, auf der sich Glasbecken – vollgestopft mit Technik, Probengefäßen und allerlei Messgeräten aneinanderreihen. An der Wand lehnt eine Ukulele, im Hintergrund ertönen Gitarrenriffs von Jimi Hendrix. 

Unter einem Mikroskop inspiziert der 42-jährige Däne, was ihm und seinem Team in den vergangenen 24 Stunden in die Falle gegangen ist. Ihre Falle, das sind ein Dutzend Plastikrohre, die in bis zu 400 Meter Tiefe auffangen, was von der Mee­res­oberfläche herabfällt. Sie hängen an Seilen mit Schwimmkörpern und folgen der Strömung. Mit einer GPS-Signalboje können die Forscher die Treibfalle orten und wieder aus den Wellen fischen.

„Ich habe hier ein wunderschönes Partikel gefunden“, sagt Iversen unvermittelt. Er dreht an der Feinjustierung des Mikroskops. Die verschwommene braun-grüne Masse auf dem Bildschirm, der den vergrößerten Bereich zeigt, gewinnt an Schärfe. Man sieht einzellige Algen, die sich mit dem Kot winziger Krebstiere verklebt haben – eine poröse, knapp einen Millimeter große Zusammenballung biologischer Materie: Meeresschnee.

Iversen, Biogeochemiker am Bremer­havener Alfred-Wegener-Institut (AWI) und Professor an der Universität Bremen, widmet sich dem Schneetreiben im Ozean – dem stetigen Partikelregen aus abgestorbenen Algenzellen und den Hinterlassenschaften des Zooplanktons von der lichtdurchfluteten Zone in die Tiefsee. Das herabfallende organische Material ist nicht nur Manna für Organismen fernab des Sonnenlichts. Es reguliert auch das Klima der Erde, indem es große Mengen Kohlendioxid (CO2), das Phytoplankton mittels Fotosynthese in Biomolekülen fixiert, in den unteren Etagen der Meere deponiert.

Global betrachtet speichert der Ozean knapp ein Drittel des anthropogenen CO2-Ausstoßes. Zum einen, indem Wassermassen abtauchen, beispielsweise im Nord­atlantik, und so gelöste CO2-Moleküle ins ­Ozeaninnere transportieren. Vor allem je­doch sind es die Überreste von Kleinst­lebe­wesen (hin und wieder auch größere Brocken wie Walkadaver), die Kohlenstoffverbindungen dorthin verfrachten. Be­rech­nungen zufolge wäre der CO2-Ge­halt der Atmosphäre ohne die untermeerischen Schneefälle fast doppelt so hoch. 

Deshalb legt Iversen seine schwimmenden Fallen aus, um Algenflocken und Kotballen zu fangen, die aus dem Oberflächenwasser schneien. Der Meeresforscher bestimmt die Größe der Partikel, wie schnell sie absinken und wie viel Kohlenstoff sie enthalten. Er lässt Kameras in die Tiefe hinab, um die ozeanischen Schneemassen zu vermessen sowie die Vielfalt an tierischem Plankton festzuhalten, das sich von Schwebstoffen, Algen oder seinesgleichen ernährt – von gepanzerten  Strahlentierchen über hakenbewehrte Pfeilwürmer und großäugigen Leuchtgarnelen bis hin zu geflügelten Schnecken, die mit klebrigen Netzen nach Beute jagen. 

Als Teenager träumte Iversen auf seiner Heimatinsel Falster im Südosten Dänemarks von einer Karriere im Musikbusiness. Mit 13 Jahren kaufte er sich die erste E-Gitarre und gründete mit Freunden eine Band. Ihre Idole waren Pearl Jam, Nirvana, Metallica. Sie rockten auf Stadtfesten und in der Jugenddisco, für trinkfeste Biker und im dänischen Radio. Bis sie sich vor einem Konzert im Streit trennten. Als der Traum vom Berufsmusiker geplatzt war, bewarb sich Iversen an der Architekturhochschule, die ihn ebenso ablehnte wie die Filmhochschule. Also schrieb er sich für Biologie ein. Immerhin hatte er ein Faible­ für Reptilien, mit denen er eine florierende Zucht betrieb.

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mare No. 152

mare No. 152Juni / Juli 2022

Von Tim Kalvelage

Am Ende der Reise erlebte die „Merian“-Crew eine schöne Szene: Eine Eisbärin wagte sich mit ihren zwei Jungen ganz nah ans Schiff heran. Tim Kalvelage, Jahrgang 1984, Autor und Fotograf in Bremen, ­verpasste den Auftritt. „Ich war nur kurz in meiner Kammer, um die Speicherkarte zu wechseln.“ Zurück an Deck, waren die Eisbären schon verschwunden.

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Vita Am Ende der Reise erlebte die „Merian“-Crew eine schöne Szene: Eine Eisbärin wagte sich mit ihren zwei Jungen ganz nah ans Schiff heran. Tim Kalvelage, Jahrgang 1984, Autor und Fotograf in Bremen, ­verpasste den Auftritt. „Ich war nur kurz in meiner Kammer, um die Speicherkarte zu wechseln.“ Zurück an Deck, waren die Eisbären schon verschwunden.
Person Von Tim Kalvelage
Vita Am Ende der Reise erlebte die „Merian“-Crew eine schöne Szene: Eine Eisbärin wagte sich mit ihren zwei Jungen ganz nah ans Schiff heran. Tim Kalvelage, Jahrgang 1984, Autor und Fotograf in Bremen, ­verpasste den Auftritt. „Ich war nur kurz in meiner Kammer, um die Speicherkarte zu wechseln.“ Zurück an Deck, waren die Eisbären schon verschwunden.
Person Von Tim Kalvelage