Schiffe machen Geschichte

Vorsprung durch Technik: Manchem Umbruch in der Weltpolitik ging eine Revolution im Schiffbau voraus

Die fortgeschrittensten Nationen, konstatierte der amerikanische Philosoph Ralph Waldo Emerson, sind immer diejenigen, die Schifffahrt treiben. Das Vehikel ihres Erfolgs ist ergo das Schiff, denn in dem Maß, wie Schiffbauer mit neuen Entwürfen die eigenen geistigen Horizonte erweiterten, dehnten sie die bis dato geltenden räumlichen Horizonte und Machtverhältnisse aus. Die menschliche Entwicklung vom Höhlenbewohner zum Homo technicus des 21. Jahrhunderts, ja unsere gesamte Geschichtsschreibung ist auf das Engste mit der Eroberung und Nutzung der Meere durch immer bessere Schiffskonstruktionen verbunden.

In meiner Kindheit versuchte ich gelegentlich selbst, das Wasser mit Konstruktionen der Marke Eigenbau zu erobern. Ein paar Plastikfässer und Holzpaletten miteinander vertäut, fertig war der Dampfer. Gott sei Dank, dass Noah ein besserer Schiffbauer war als ich, anderenfalls wäre es zu diesen Betrachtungen kaum noch gekommen. Seine Arche ist sicherlich der historische Prototyp eines Schiffbaus, der den Gang der Geschichte beeinflusst hat. Die Liste solcher Zäsuren im Lauf unserer Entwicklung ist lang; drei Beispiele mögen dies illustrieren: Die Galeone des englischen Schiffbauers Matthew Baker verhinderte 1588 die Invasion der Spanier, ihre Armada wurde vernichtend geschlagen. Die Spanier ihrerseits wären ohne die Karavelle nie zur Weltmacht aufgestiegen. Und ohne das Langschiff der Wikinger sähen die Europäer heute anders aus. Warum wohl haben die Iren rote Haare? Und wie kommt es, dass wir auf Reisen durch Apulien oder Sizilien naturblonde, hellhäutige Italiener treffen? Es handelt sich dabei im wahren Sinn des Wortes um das Erbe der Wikinger.

Von Neufundland an der Ostküste Amerikas bis ins Zweistromland, von Island bis zur Nordküste Afrikas - die Spuren der Nordmänner sind bis auf "Down Under" auf jedem Kontinent zu finden. Was diese maritime Expansion ausgelöst hat, ist umstritten; unwiderlegbar ist aber, dass sie erst durch grundlegende Veränderungen im Schiffbau möglich wurde. Der entscheidende Impuls lag in der Kombination der Antriebsquellen: Bei günstigen Winden setzten die Wikinger ein Rahsegel aus Wolle, das sie mit Pferdefett wasserabweisend imprägniert hatten, bei widrigen Bedingungen wurde der Mast gelegt, und die Männer legten sich in die Riemen. Ein durchgehender Kiel garantierte Richtungsstabilität und Seetüchtigkeit, die Rümpfe wurden in Klinkerbauweise gefertigt, wobei die einzelnen Eichenplanken wie Dachziegel übereinander griffen. Die Schiffe waren so entworfen, dass sie den Wellen in einem gewissen Grad flexibel nachgaben.

Starre, solidere Konstruktionen wären schwerer und langsamer gewesen. Geschwindigkeit jedoch war der Trumpf der knapp 30 Meter langen Spitzgattboote, die mit ihrem geringen Tiefgang von nur einem Meter an jedem Strand landen und die Flüsse hinauf laufen konnten.

Mit diesen Schiffen waren die kriegerischen Nordmannen 300 Jahre lang der Schrecken der europäischen Küsten. Kaum ein Land, in dem sie nicht bleibenden Eindruck hinterlassen haben. Die Etymologie des Staatsnamens Russland ist beispielsweise auf das Wort "rus" zurückzuführen, das die Slawen den Handel treibenden Rotschöpfen aus dem Nordwesten gaben. Und jeder Segler, der von Steuerbord redet, sollte sich im Klaren sein, dass dieser Begriff vom Langschiff stammt, das sein Ruder auf der rechten Seite hatte. Sie haben in der Schule auch noch gelernt, dass Kolumbus Amerika gefunden hat? Archäologische Funde nahe dem kanadischen L'Anse aux Meadows zeigen, dass die Wikinger schon um das Jahr 1000 nach Neufundland gelangt sind.

Obwohl ich Kolumbus die Entdeckung Amerikas absprechen muss, zählt ein Schiff seiner Flotte trotzdem zu dem auserwählten Kreis von Wasserfahrzeugen, die Geschichte schrieben: die Karavelle, das Arbeitstier der Entdecker. Glaubte ein Großteil der Europäer noch um 1430, die Erde sei eine Scheibe, waren 80 Jahre später die kugelhafte Gestalt des Planeten bewiesen und die Küsten der meisten Erdteile erkundet. Was wie abstrakter Geschichtsunterricht über die Epoche der Entdecker klingt, lässt sich durch einfache Beispiele aus unserem täglichen Leben veranschaulichen: Curry, Ingwer, Pfeffer - sie haben erst durch Magellan und seine Zeitgenossen ihren festen Platz in der europäischen Küche gefunden. Und das Christentum ist nicht zuletzt wegen des Missionierungseifers der Konquistadoren die größte der Weltreligionen.

Dass die Karavelle auf Kiel gelegt wurde, verdanken die Entdecker einer Vision des portugiesischen Prinzen Heinrich des Seefahrers, der die Westküste des afrikanischen Kontinents erforschen wollte. Ein für damalige Verhältnisse ketzerisches Unter- nehmen, denn das Ufer des heutigen Marokko galt als das Ende der bekannten Welt. Doch nicht nur diese psychologische Barriere des ausgehenden Mittelalters musste durchbrochen werden; es musste auch ein Schiff gefunden werden, das einerseits sowohl die Untiefen entlang Afrikas Küste befahren als auch dem Wellengang des Atlantiks trotzen konnte und andererseits in der Lage war, bei der Rückreise gegen den Nordostpassat zu kreuzen.


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mare No. 39

No. 39August / September 2003

Ein Essay von Christian Heynen

Christian Heynen, Jahrgang 1973, lebt in Remscheid und arbeitet seit Abschluss seines Studiums der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften als freier Autor. Bei Recherchen für eine ZDF-Dokumentation über Ideen, die die Welt veränderten, stieß er in Portugal und in England auf die bahnbrechende Bedeutung der Karavelle und der Galeone. Zurzeit arbeitet er an einem Film über die ersten U-Boote der Weltgeschichte.

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Vita Christian Heynen, Jahrgang 1973, lebt in Remscheid und arbeitet seit Abschluss seines Studiums der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften als freier Autor. Bei Recherchen für eine ZDF-Dokumentation über Ideen, die die Welt veränderten, stieß er in Portugal und in England auf die bahnbrechende Bedeutung der Karavelle und der Galeone. Zurzeit arbeitet er an einem Film über die ersten U-Boote der Weltgeschichte.
Person Ein Essay von Christian Heynen
Vita Christian Heynen, Jahrgang 1973, lebt in Remscheid und arbeitet seit Abschluss seines Studiums der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften als freier Autor. Bei Recherchen für eine ZDF-Dokumentation über Ideen, die die Welt veränderten, stieß er in Portugal und in England auf die bahnbrechende Bedeutung der Karavelle und der Galeone. Zurzeit arbeitet er an einem Film über die ersten U-Boote der Weltgeschichte.
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