Rote Kultkonserve

Über die Renaissance eines einfachen sozialistischen Dosenfischs

Seeleute brachten schon immer Exotisches mit in die Heimat.  Aber ein Fischrezept – aus dem fernen Senegal nach Szczecin? Wohl hatten polnische Fischereimitarbeiter in west­afrikanischen Häfen Gefallen an thiébou­dienne gefunden, dem senegalesischen Nationalgericht aus zerkleinertem Fisch und Reis mit Chili. Aber wie genau das Rezept in die Labore des staatlichen Fischereiunternehmens Gryf in Szczecin gelangte, ist nicht überliefert. 

Ursprünglich ging es darum, die beim Schneiden der gefrorenen Fischblöcke auf den Trawlern anfallenden Fischreste zu verwerten und zu einem günstigen Gericht für das polnische Arbeiter-und-­Bauern-Volk zu verarbeiten. Von 1965 bis 1967 tüftelten Gryf-Laboranten an der Rezeptur, dann liefen die ersten Dosen vom Band. Das ursprüngliche paprykarz aus Szczecin enthielt neben Seefisch, Reis, importierten Tomaten aus Bulgarien und Ungarn auch original afrikanischen Chili, später dann ungarisches Paprikapulver. Und erst der exotische Geschmack sorgte wohl für den durchschlagenden Erfolg.

Ob aufs Brot gestrichen oder direkt aus der Dose gelöffelt – in den folgenden Jahren eroberte das Gericht den Geschmack der Masse. Willkommen war es auch wegen seiner langen Haltbarkeit – und wegen des niedrigen Preises. In den 1980ern, den wirtschaftlichen Krisenjahren, war paprykarz besonders unter „Künstlern und Alkoholikern beliebt“, so der polnische Journalist Adam Zadworny. Noch heute gibt es in Szczecin kaum jemanden, der mit der kommunistischen Kultdose nicht persön­liche Erinnerungen verbindet: an Studententage im Wohnheim, gemeinsame Campingausflüge oder an den Abendbrottisch zu Hause. 

„Natürlich erinnere ich mich daran aus meiner Jugend“, sagt Gosia Syjczcak, Managerin des Lokals „Paprykarz Fish Market“ in Szczecin. „Damals fand ich es lecker, aber heute? Kein Vergleich mit unserem frisch zubereiteten paprykarz.“ Tatsächlich besticht die Vorspeise aus geräuchertem Fisch durch Geschmacksnuancen, die man dem simplen Gericht nicht zutraut. Und auch optisch erinnert im „Paprykarz Fish Market“ nichts mehr an einstige Mangeljahre, als im Dosen-­paprykarz immer mehr Abfälle landeten – während schlechter Fangzeiten auch Fischschuppen oder Flossen. 

Das postmoderne Interieur erweckt den Eindruck maritimer Marktfrische: viel Holz, poliertes Metall und Kacheln. Die jungen Kellnerinnen tragen fesche Papierschiffchen im Haar, auf der Theke steht eine Vitrine mit Frischfisch. Das Lokal, keine Frage, will an die Hafentradition von Szczecin erinnern. Und da lag natürlich auch der Name nah. Die Gäste stammen überwiegend aus Deutschland und Asien, nicht zuletzt angelockt vom Ruf einer ehemals sozialistischen Konserve, die in ihrer Hochzeit in mehr als 30 Länder exportiert wurde. 

Maciej Kowalewski und Robert Bart­łomiejski vermuten im „Journal of Ethnic Foods“, dass der Wandel „von einem gewöhnlichen Imbiss zu einem Slow-Food-Gericht“ auf Menukarten heute eine „nostalgische Vorstellung von einer einst wohlhabenden Stadt und ihrer Hochsee­fischerei“ auslöse. Dass „Paprykarz Fish Market“ seinen Fisch aus Berlin bezieht, spielt dabei keine Rolle. 

Inwieweit paprykarz überhaupt eine kulinarische Marke aus Szczecin ist, wurde nie wirklich geklärt. Gryf erlitt während des Übergangs in die Marktwirtschaft Konkurs, Unterlagen gingen verloren. Plötzlich boten Fabrikanten aus ganz Polen paprykarz szczeciński an, zum Ärger der Szczeciner. 

Vielleicht auch um ihren regionalen Anspruch zu untermauern, ließ die Stadt 2020 schließlich ein Denkmal in Form einer überdimensionierten paprykarz-­Dose errichten. Doch das passte dem städtischen Denkmalschützer nicht. Er ließ die Skulptur wieder entfernen. Erneut kam es zu Streit, diesmal um ästhetische Fragen. Inzwischen hat der Denkmalschützer eingelenkt, das bizarre Dosenmonument darf zumindest „saisonal“ aufgestellt werden. Dass paprykarz szczeciński  letztlich auf einem westafrikanischen Kulturgut beruht, darüber hat natürlich nie jemand ernsthaft nachgedacht. 


Paprykarz szczeciński
 
Zutaten (für 4 Personen)
250 g Räucherfisch, 100 g Reis, 1 Zwiebel, 1 Möhre, 1 Wurzelpetersilie, 250 ml Brühe, 1 EL Tomatenmark, 2 TL Paprikapulver, 1/2 TL Chili.

Zubereitung
Fisch klein schneiden. Den Reis in gesalzenem Wasser garen. Die Zwiebel würfeln, dann mit Öl in der Pfanne glasig garen. Geriebenes Gemüse hinzufügen. 2 bis 3 Minuten braten. Die Brühe dazugießen, alles miteinander vermengen und kochen, bis das Gemüse weich ist. Fisch, Gewürze und Reis für drei Minuten hinzugeben und Tomatenmark unterrühren. Warm oder kalt genießen, als Beilage Brot.

Paprykarz Fish Market 
Aleja Papiez.a Jana Pawła II 42, 
70-415 Szczecin, Polen.

Telefon +48/91/4332233, geöffnet Mo bis Do 12 bis 23 Uhr, Fr und Sa bis nach Mitternacht, So bis 22 Uhr. paprykarz.fishmarket@gmail.com, www.paprykarz.com.pl

mare No. 157

mare No. 157April / Mai 2023

Von Roland Brockmann

Roland Brockmann, Jahrgang 1961, lebt in Berlin als unabhängiger Journalist, Fotograf und Video Producer. Bei mare war er an den ersten internationalen Reportagen beteiligt, heute schreibt er dort vor allem Buchrezensionen. 2018 erschien sein erstes eigenes Buch: Real People of East Africa (Photo Edition Berlin).

Mehr Informationen
Vita Roland Brockmann, Jahrgang 1961, lebt in Berlin als unabhängiger Journalist, Fotograf und Video Producer. Bei mare war er an den ersten internationalen Reportagen beteiligt, heute schreibt er dort vor allem Buchrezensionen. 2018 erschien sein erstes eigenes Buch: Real People of East Africa (Photo Edition Berlin).
Person Von Roland Brockmann
Vita Roland Brockmann, Jahrgang 1961, lebt in Berlin als unabhängiger Journalist, Fotograf und Video Producer. Bei mare war er an den ersten internationalen Reportagen beteiligt, heute schreibt er dort vor allem Buchrezensionen. 2018 erschien sein erstes eigenes Buch: Real People of East Africa (Photo Edition Berlin).
Person Von Roland Brockmann