Rette mich, wer kann

Beim Untergang der „Johanne“ in einem Herbststurm 1854 starben die Passagiere in Sichtweite der Insel Spiekeroog – niemand­ an Land wusste, wie man ihnen helfen könnte. Ein Gutes hatte die Tragödie: die Gründung der deutschen Seenotrettung

In der Nacht zum 2. November 1854, als die „Johanne“ zu ihrer ersten und letzten Fahrt aufbricht, ist von dem aufkommenden Sturm über der Nordsee noch nichts zu erahnen. Erst vor wenigen Tagen wurde die Dreimastbark in Dienst gestellt, die Reise von Bremerhaven nach Baltimore an die amerikanische Ostküste soll ihre Jungfernfahrt werden. Als das Schiff durch die Wesermündung gleitet, blicken die Passagiere noch einmal mit einer Mischung aus Hoffnung und Angst zurück an Land. Um acht Uhr morgens werden die Segel gesetzt. Bei leichtem Wind aus Südost nimmt das Schiff Fahrt auf.

Insgesamt 216 Auswanderer sind an Bord, Alleinstehende und Familien, Frauen, die ihren Männern folgen, Säuglinge und Kinder. Die meisten stammen aus Süddeutschland, sie fliehen vor Wirtschaftskrisen und Armut. Sie haben Geschichten gehört von großen Ländereien jenseits des Atlantiks, die mit Fleiß und Arbeit zu erwerben sind – ohne einen Fürsten, der nach Gutdünken Pachten und Steuern verlangen kann.

Doch die „Johanne“ wird ihr Ziel nie erreichen. Vier Tage nachdem sie Kurs auf die Neue Welt genommen hat, treibt sie in der tosenden Nordsee auf die gefährliche Brandungszone vor den Ostfriesischen Inseln zu. Bereits kurz nach Beginn der Reise hat der Wind gedreht und mächtig an Stärke zugenommen. Meterhohe Brecher stürzen über dem Schiff zusammen, das sich schon nicht mehr navigieren lässt.

Seit Tagen spielen sich im schlecht belüfteten Zwischendeck elende Szenen ab. Die Auswanderer leiden unter Seekrankheit, unter Enge, Dunkelheit, Gestank. Am Oberdeck versucht die Besatzung erschöpft, das Schiff von den Inseln und Sandbänken fernzuhalten. Unablässig lässt Kapitän Johann Diedrich Oldejans loten, doch bald wird klar, dass die „Johanne“ nicht zu retten ist. Von den Sturmböen wird sie in Richtung der Insel Spiekeroog gepeitscht.

Dort ahnt man noch nichts von der Tragödie, die sich gerade auf der Nordsee abspielt. Die meisten Bewohner Spiekeroogs scharen sich zu diesem Zeitpunkt zu Hause um ihre Herdfeuer und Öfen, sie haben das Aufkommen des Sturmes beobachtet und sich entsprechend vorbereitet. Es ist genügend Holz gehackt, und die Vorräte sind aufgestockt. Man ist Herbststürme dieser Art gewohnt.

Nur einige wenige treten vor die Tür, um besorgt nach dem Zustand des Deiches zu sehen und nach den Kuttern, die sie an der Südseite der Insel mit zusätzlichen Leinen befestigt haben. Dann, am Morgen des 6. November, gegen zehn Uhr, bricht auf einmal Hektik aus. Ein Grenzaufseher kommt mit der Nachricht ins Dorf, dass vor der Insel ein Schiff in Gefahr sei. Kapitän Oldejans hat die „Johanne“ im Watt auf Grund gesetzt – „so nahe“, wird Inselpastor Johann Doden später ins Kirchenbuch schreiben, „wie selten ein Schiff hier strandet“.

Die Bewohner eilen zum Strand. Doch sie können nichts tun. Ein Rettungsboot gibt es nicht; das Wasser steigt. Die Flut hat den Weg zum Schiff abgeschnitten. Tatenlos müssen die Spiekerooger mit ansehen, wie Deckhäuser, Masten und Rahen von den brechenden Wellen zertrümmert werden. Viele der Reisenden haben sich an Deck geflüchtet aus Angst, im Schiffsinnern eingeschlossen zu werden. Sie werden ins Meer gerissen, von den Trümmern erschlagen. Einige wenige können sich an etwas Schwimmendes klammern. Die sich noch unter Deck befindenden Auswanderer müssen hinaufklettern, um das Schiff verlassen zu können, doch sind die Treppenaufgänge von anderen versperrt. Schnell nimmt das Schiff Schlagseite an. Dabei werden Frachtstücke, Mobiliar und Schiffstrümmer umhergeschleudert, die die panischen Menschen treffen. Durch das ständige Schlagen der Brecher auf Bordwände und Deck lösen sich Planken von den Spanten und den Deckbalken. Man hört Schreie.

„Wir konnten diesen Angstschrei nur achselzuckend und stumm erwidern, nur durch Hüteschwenken ein Zeichen geben, dass wir ihre Not erkannten und fühlten“, schreibt Pastor Doden. Am Strand werden Leichen und Körperteile angeschwemmt. „Was tun für die Unglücklichen? Das war die Frage, auf die keiner eine Antwort wusste.“


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mare No. 130

Oktober / November 2018

Von Carina Braun und Christof Schramm

Carina Braun, Jahrgang 1981, Journalistin in Hamburg, war oft auf der Nordsee unterwegs. Zu wissen, dass es die DGzRS gibt, fand sie immer sehr beruhigend. Christof Schramm, geboren 1967, Autor in Bremen, bereiste Dutzende Male die Insel Spiekeroog. Über das Unglück der „Johanne“ schrieb er ein Buch.

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Vita Carina Braun, Jahrgang 1981, Journalistin in Hamburg, war oft auf der Nordsee unterwegs. Zu wissen, dass es die DGzRS gibt, fand sie immer sehr beruhigend. Christof Schramm, geboren 1967, Autor in Bremen, bereiste Dutzende Male die Insel Spiekeroog. Über das Unglück der „Johanne“ schrieb er ein Buch.
Person Von Carina Braun und Christof Schramm
Vita Carina Braun, Jahrgang 1981, Journalistin in Hamburg, war oft auf der Nordsee unterwegs. Zu wissen, dass es die DGzRS gibt, fand sie immer sehr beruhigend. Christof Schramm, geboren 1967, Autor in Bremen, bereiste Dutzende Male die Insel Spiekeroog. Über das Unglück der „Johanne“ schrieb er ein Buch.
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