Räume der Ungewissheit

Ein romantischer Minimalist: Zeit seines Künstlerlebens beschäftigt sich der gefeierte Ire Sean Scully mit dem magischen Aufeinandertreffen von Land, See und Himmel

Sean Scullys erste Begegnung mit dem Meer hätte auch seine letzte sein können: In den späten 1940er-Jahren kommt im Nebel der Irischen See ein Schiff vom Kurs ab, der Funkkontakt zum Festland ist abgebrochen. Als wäre die Situation nicht dramatisch genug, suchen Matrosen mit langen Stangen und Lampen das Wasser nach Minen ab.

Dies ist eine der ersten Erinnerungen des 1945 in Dublin geborenen Künstlers, der damals als vierjähriges Kind mit an Bord war und noch heute von den Geräuschen an Deck zu berichten weiß, wenn er aus seinem bewegten Leben erzählt, dem es auch ansonsten an Fährnissen nicht mangelt. „Natürlich haben wir es zurück nach England geschafft, doch es war sehr gefährlich. Daher ist das Thema der Ungewissheit von Anfang an in meinem Leben präsent. Ich schätze, ich könnte nun behaupten, mir gewiss zu sein, einiges erreicht zu haben, und es wäre unaufrichtig zu sagen, dass mir das nicht bewusst wäre. Doch was meine Beziehung zur Gewissheit angeht, ziehe ich es noch immer vor, mich mit der Ungewissheit anzufreunden. Ich brauche keine Gewissheit. Ich brauche keine Sicherheit. Ich bin auch ohne diese Dinge recht zufrieden. Was das angeht, bin ich frei.“

Den unvorstellbar prekären Verhältnissen in Irland entronnen – der heute mit Ateliers in mehreren Ländern, einem amerikanischen Pass und dem Titel eines ehrwürdigen „Royal Academian“ komfortabel versorgte Künstler spricht bisweilen über die zeitweilige Obdachlosigkeit seiner Familie, die bei Verwandten um Unterschlupf nachsuchen musste –, findet sich der junge Sean Scully im zerbombten London der Nachkriegsjahre in einer zerrütteten, von Alkohol und Gewalt geprägten Familiensituation wieder. Zu den seltenen Lichtblicken des Familienlebens gehören gelegentliche Ausflüge ans Meer, die er als „sehr aufregend“ beschreibt. „Es war exotisch. Wir lebten mehr oder weniger in den Slums von London, und wenn wir an die Küste fuhren, waren wir an einem Ort, an dem sich endlich der Raum öffnete.“

Welchen Weg ins Leben er einschlägt, bleibt in jenen Jahren erst einmal ungeklärt. Da sind die archaischen Verhältnisse,
die ihn zum Mitglied einer Straßenbande, zum „Kämpfer“ und
„Kriminellen“ werden lassen. Doch da ist auch jenseits aller Risiken und
Nebenwirkungen, die eine subproletarische Sozialisation im „irischen
Ghetto“ von Islington und im Südlondoner Vorort Sydenham mit sich
bringt, seine andere Seite: Beeindruckt von der Schönheit katholischer Kirchenmalerei, beschließt er bereits im Alter von neun Jahren erstmals, Künstler zu werden.

Er absolviert eine Druckerlehre, arbeitet in einem Grafikbüro, eröffnet als begeisterter Fan des amerikanischen Rhythm ’n’ Blues nebenbei einen eigenen Musikclub und schreibt sich für Abendkurse der Londoner Central School of Art & Design ein, um der figurativen Malerei auf die Spur zu kommen; schließlich hängt in der Tate Gallery van Goghs Stuhl, dessen Direktheit ihn bewegt und den er in seinen Mittagspausen immer wieder aufsucht. Ebenfalls begeistern ihn die deutschen Expressionisten der Brücke wie Karl Schmidt-Rottluff und Ernst Ludwig Kirchner.

Es folgen Studien an glanzlosen Orten wie Croydon südlich von London und Newcastle im rauen Norden Englands, wo er einen Lehrauftrag erhält und seine Kunst eine Wendung zur Abstraktion erfährt. Aus filigranen Experimenten mit Bändern und Streifen werden Arbeiten, die an die kalten Architekturen und Stadtraster der Moderne erinnern.

Später entstehen ausdrucksvolle Gemälde mit rechteckigen Farbblöcken, die wie hoch und quer angeordnete Backsteine erscheinen – weswegen man ihn scherzhaft auch den „bricklayer of the soul“ nennt. Wobei er sich bewusst von den heroischen Abstrakten der ersten Generation distanziert. „Warum gibt man Bildern Titel? Eine einfache Antwort ist,
dass diese Art von Malerei den Menschen überhaupt nichts vermittelt.
Mir ging es darum, die Abstraktion aus der Sackgasse zu befreien, in die sie Ende der siebziger Jahre geraten war. Und so begann ich, Bilder zu malen, die nicht komplett abstrakt waren. Meine Bilder sind
sehr assoziationsreich. Ich bin nicht sonderlich stolz, ein abstrakter
Maler zu sein. Für mich ist das weder ein Verdienstorden noch eine Last. Ich mache Bilder, um – hoffentlich – mit Menschen zu kommunizieren.“

Was offensichtlich funktioniert, wenn man die Besucherzahlen seiner Ausstellungen betrachtet. Das könnte an seiner Fähigkeit liegen, aus den ästhetischen Anforderungen der Gegenwart und zeitlosen Bedürfnissen eine eigene Synthese zu schaffen, die in verschiedenen Kulturkreisen Resonanz findet. Bei seiner
Positionierung im künstlerischen Feld nimmt er kein Blatt vor den Mund. „Natürlich bin ich ein sehr romantischer Maler, das weiß jeder. Und was ich nicht mag, sind all diese Maler, die eine theoretische, didaktische Malerei betreiben. Ich halte das für Mist, und ich denke,
es ist in jeglicher Hinsicht tot. Diese Leute sind nicht einmal intellektuell. Na ja, vielleicht ein kleines bisschen intellektuell, aber auch nicht intellektueller als ich.“ Überhaupt, die Romantik. „Eines meiner absoluten Lieblingsbilder befindet sich in Berlin: Caspar David Friedrichs ‚Der Mönch am Meer‘, ein raues Gemälde mit wunderschönen Grautönen. Dazu stellt es eine Metapher für den Menschen
am Rand seines Habitats, seines natürlichen Habitats, dar, es ist wirklich unglaublich. Schließlich ist Seefahrt ohne Hilfsmittel undenkbar.“


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mare No. 127

April / Mai 2018

Von Gunnar Lützow

Der Berliner Journalist Gunnar Lützow, Jahrgang 1970, ist seit gut einem Vierteljahrhundert beeindruckt von der Kraft der postminimalistischen Abstraktion des irischen Künstlers Sean Scully und ist ihm zu seiner großen Freude im vergangenen Jahr auch gleich dreimal begegnet. Die seltene Gelegenheit, sich in der vom Künstler als Atelier und Schaulager genutzten ehemaligen Industriehalle in Berlin-Reinickendorf gänzlich in eines der großformatigen Werke Scullys zu versenken, war für ihn ein wahrer Zenmoment. Gespannt erwartet er den September. Dann zeigt die Berliner Galerie Kewenig Werke Sean Scullys zusammen mit Arbeiten des Franzosen Henri Matisse.

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Vita Der Berliner Journalist Gunnar Lützow, Jahrgang 1970, ist seit gut einem Vierteljahrhundert beeindruckt von der Kraft der postminimalistischen Abstraktion des irischen Künstlers Sean Scully und ist ihm zu seiner großen Freude im vergangenen Jahr auch gleich dreimal begegnet. Die seltene Gelegenheit, sich in der vom Künstler als Atelier und Schaulager genutzten ehemaligen Industriehalle in Berlin-Reinickendorf gänzlich in eines der großformatigen Werke Scullys zu versenken, war für ihn ein wahrer Zenmoment. Gespannt erwartet er den September. Dann zeigt die Berliner Galerie Kewenig Werke Sean Scullys zusammen mit Arbeiten des Franzosen Henri Matisse.
Person Von Gunnar Lützow
Vita Der Berliner Journalist Gunnar Lützow, Jahrgang 1970, ist seit gut einem Vierteljahrhundert beeindruckt von der Kraft der postminimalistischen Abstraktion des irischen Künstlers Sean Scully und ist ihm zu seiner großen Freude im vergangenen Jahr auch gleich dreimal begegnet. Die seltene Gelegenheit, sich in der vom Künstler als Atelier und Schaulager genutzten ehemaligen Industriehalle in Berlin-Reinickendorf gänzlich in eines der großformatigen Werke Scullys zu versenken, war für ihn ein wahrer Zenmoment. Gespannt erwartet er den September. Dann zeigt die Berliner Galerie Kewenig Werke Sean Scullys zusammen mit Arbeiten des Franzosen Henri Matisse.
Person Von Gunnar Lützow