Radical Andy

Andy Shonley aus Kalifornien ist seit 50 Jahren Surfer. Ein großer Surfer, findet unser Autor. Es ist Zeit für eine Würdigung

Sorry, Bro. Vielleicht morgen. Die Brandung ist gut, und ich sterbe, wenn ich heute nicht surfe.“ Das schrieb Andy mir am Tag unseres vereinbarten Telefoninterviews. War ja klar. Am Tag darauf frage ich ihn, wie es lief. „Nur Wipeouts“, sagt er. „Die Dinger haben komplett zugemacht. Und ich bin zu fett.“


Er war nicht immer fett. In meiner Erinnerung ist er ein schlanker Adonis, hochgewachsen, mit breiten Schultern und dunklem Teint, den er mehr seiner peruanischen Mutter als der kalifornischen Sonne verdankte. Sein Vater, mit deutschen und irischen Vorfahren, war ein beinharter Bauarbeiter, Spitzname „Iron Mike“. Andys großer Bruder, Mike Jr., brachte Andy das Surfen bei, das war in den Sommerferien nach der sechsten Klasse. Mike war kein Surfer, aber wollte einer werden. Er und sein Freund Octavio hatten sich ein Brett gekauft und nahmen Andy mit zum Strand oberhalb vom Santa Monica Pier. Mike und Octavio hatten wenig Glück. Sie kamen auf der Welle nicht in den Stand auf ihrem Brett und gaben nach zwei Stunden auf. Andy hatte sich die Sache genau angesehen und fragte die beiden, ob er es auch mal probieren könne. Klar, lachten die. Sieh nur zu, dass du nicht absäufst. Also paddelte Andy raus, erwischte prompt eine Welle, stellte sich aufs Brett und surfte sie bis zum Strand. Mike und Octavio rannten in den Shorebreak und nahmen Andy auf die Schultern, wie einen Matador, der nach einer triumphalen Faena durch die Arena getragen wird. 

Jeder Surfer hat seine eigene Ursprungsgeschichte. Aber ich habe nie von einem gehört, der die allererste Welle surft, in die er je gepaddelt ist. Es kann Stunden, wenn nicht sogar Tage dauern, bis man auf der ersten Welle steht. 

„Bist du sicher, dass das nicht nur das Weißwasser war?“, frage ich ihn. – „Nix Weißwasser, Bro, bin einfach auf der Wasseroberfläche entlanggeflogen.“

Er hatte als Straßen-Surfer angefangen, sein Ozean war das San Fernando Valley. Manchmal skatete er über den Hügel rüber zum Campus der University of California in L.A., wo ihn hektarweise glatter Beton erwartete. Um ein wenig schneller voranzukommen, hängte er sich dabei an einen Linienbus, wenn einer vorbeikam. Oder er radelte auf seinem Schwinn-Rad mit dem langen Bananensattel. Er war auf zwei Rädern genauso gut wie auf vier und ein Meister des unendlich langen Wheelies. Als Achtklässler bekam er von seinem Vater ein Motocross-Rennmotorrad, eine Bultaco 250, für einen 13-Jährigen ein ziemlicher Brocken. Der Gleichgewichtssinn und die Risikofreude, die bei all dem zum Tragen kamen, machten sich auch beim Surfen bezahlt. Ich glaube ihm die Geschichte mit der allerersten Welle.

Kennengelernt haben Andy und ich uns an der Crespi Carmelite High School, einer katholischen Jungenschule im wohlhabenden Süden des San Fernando Valley. Wir stammten beide aus weniger betuchten Vierteln, er aus Van Nuys und ich aus Reseda, aber unsere Eltern wollten uns mit den besseren Kreisen in Kontakt bringen. Daraus wurde nichts. Stattdessen fanden wir ­einander und gingen surfen. In meinem Roman über diese Zeit („Surferboy“, mareverlag) nenne ich Andy „Radical Jack“, ein fiktionaler Name, der für mich seine absolute Unerschrockenheit beinhaltet. Dabei wusste ich damals gar nicht so viel über ihn. Unsere Freundschaft beruhte ausschließlich auf Surfen. In gewisser Weise lerne ich ihn erst durch dieses Interview näher kennen.

„Wie ging es mit dem Surfen nach der Schule weiter?“ – „Ziemlich direkt nach der Abschlussfeier bin ich ab nach Hawaii“, sagt Andy. „Ich war jeden Tag an der South Shore von Oahu surfen, am Kaiser’s-Surfspot und an den Rock Piles.“

Nebenher kutschierte er Touristen im Fahrradtaxi durch Waikiki. Und er verkaufte Gras und besorgte den Nutten Freier. Was man als 17-Jähriger halt so tut, um über die Runden zu kommen. Nach einem halben Jahr Hawaii kehrte er zurück nach Kalifornien, um aufs College zu gehen. Oder so was in der Art. Er besuchte keine Kurse. Er besorgte sich nicht einmal die Bücher. Die Crespi High School hatte ihm eine so solide Bildungsgrundlage ver­passt, dass er auch als dauerschwänzender ­Vollzeit-Surfer mit befriedigenden Noten durchs Studium kam. Im Dezember 1983 legte er seine Abschlussprüfungen ab, zwei Tage später war er wieder auf Hawaii, diesmal an der North Shore von Oahu, wo er seinen Surfer-Abschluss machte. Pipeline. Haleiwa. Waimea an „kleinen“ Tagen, Sunset an sehr großen. Einmal paddelte der berühmte Big-Wave-Surfer Mark Foo am Sunset in Andys Welle und nahm ihm die Vorfahrt. Das klingt erst mal nicht besonders aufregend. Aber: Foo surfte normalerweise nur bei starker Brandung und sollte Jahre später von einer Riesenwelle getötet werden, was zeigt, dass sich Andy damals eindeutig in gefährliche Situationen begab. 

Zur Erholung von den Touristen und dem hohen Verkehrsaufkommen im Line­up flog er zusammen mit einem Kumpel nach Tavarua. Auf der kleinen Insel in ­Fidschi charterten sie ein Boot und fuhren zu einem der besseren Surfspots. Ein Boot mit zwei weiteren Typen aus Kalifornien war ihnen dicht auf den Fersen. Offenbar erhoben sie Besitzansprüche auf das Riff. Und sie hatten zwei massige Fidschianer mit Macheten dabei. Tolle Erholung. Doch Andy und sein Kumpel gaben nicht auf. Sie fuhren ein paar hundert Meter weiter zum kleinen Atoll Namotu, das sie ganz für sich allein hatten. „Heute gibt es da so ein elendes Surf-Camp“, kommentiert Andy angewidert.
Aus dem Amerikanischen von Julia Ritter

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mare No. 156

mare No. 156Februar / März 2023

Von Kevin McAleer

Kevin McAleer, 1961 in Santa Monica, Kalifornien geboren, lebt als Schriftsteller und Übersetzer in ­Berlin. Er ist Verfasser des Romans „Surferboy“ (mareverlag). Sein neuester Roman ist „POSTDOC. The ­Foreign and Other Misadventures of a Ne’er-Do-Well Scholar“ (Palm­ArtPress). Gerade hat er die Arbeit an einem Roman über das Aufwachsen im Südkalifornien der 1960er- und 1970er-Jahre abgeschlossen.

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Vita Kevin McAleer, 1961 in Santa Monica, Kalifornien geboren, lebt als Schriftsteller und Übersetzer in ­Berlin. Er ist Verfasser des Romans „Surferboy“ (mareverlag). Sein neuester Roman ist „POSTDOC. The ­Foreign and Other Misadventures of a Ne’er-Do-Well Scholar“ (Palm­ArtPress). Gerade hat er die Arbeit an einem Roman über das Aufwachsen im Südkalifornien der 1960er- und 1970er-Jahre abgeschlossen.
Person Von Kevin McAleer
Vita Kevin McAleer, 1961 in Santa Monica, Kalifornien geboren, lebt als Schriftsteller und Übersetzer in ­Berlin. Er ist Verfasser des Romans „Surferboy“ (mareverlag). Sein neuester Roman ist „POSTDOC. The ­Foreign and Other Misadventures of a Ne’er-Do-Well Scholar“ (Palm­ArtPress). Gerade hat er die Arbeit an einem Roman über das Aufwachsen im Südkalifornien der 1960er- und 1970er-Jahre abgeschlossen.
Person Von Kevin McAleer