Platz da!

Keine Stadt der Welt hat eine höhere Einwohnerdichte wie die frühere britische Enklave am Chinesischen Meer. Das macht das Wohnen zur besonderen – und besonders teuren – Angelegenheit

Ich interessiere mich nicht für Schiffe, und auch das Meer ist mir egal.“ Ein Lächeln breitet sich über Steve Chens kantiges Gesicht. Chen Yumwo, so sein chinesischer Name, ist 60 Jahre alt. Seit 20 Jahren arbeitet er im Hongkonger Hafen, genauer gesagt an den Kwai Chung Terminals in Kowloon. Seine Arbeit besteht darin, Container zu registrieren, jeden einzelnen, 24 Stunden dauert die Schicht. Danach ist 24 Stunden Pause. „Mein Sohn wurde geboren, als ich 40 war“, sagt er. „Bis dahin habe ich so dies und das gemacht. Aber als mein Kind zur Welt kam, da war mir klar, dass ich unbedingt für ein stabiles Einkommen sorgen muss. Also habe ich im Hafen angefangen.“

Chen verdient umgerechnet 1500 Euro im Monat. Er und seine Frau wohnen mit ihren zwei Kindern in einer 35-Quadratmeter-Wohnung unweit des Terminals: ein Wohnzimmer, randvoll mit Büchern, und zwei kleine Schlafzimmer, in jedem davon ein Etagenbett. „Dieses Stockbett hier“, Chen weist nach rechts, „ist für meinen Sohn und mich.“ Das andere ist für Frau und Tochter. Die Wohnung befindet sich in einem Block namens „Kwai Fong Estates“ in West-Kowloon. Die Anlage besteht aus fünf Häusern zu je 38 Stockwerken. Man erreicht sie durch schmale Korridore ohne Fenster, eine kleine Wohnung neben der anderen, alle mit Gittern vor den Türen, zum Schutz vor Einbrechern.

Als Chen ein Kind war, hätte eine Wohnung wie die, in der er jetzt wohnt, nicht als klein gegolten, jedenfalls nicht für ihn. Chen ist in Wan Chai aufgewachsen, damals so etwas wie das St. Pauli Hongkongs. Statt in einer Wohnung lebte er mit Geschwistern und Eltern auf einer Seite eines Zimmers, in dem auch andere wohnten. Die private Behausung war das Etagenbett. Chens Vater war Schneider. Er hatte es nicht weit bis zur Arbeit; zum Nähen hockte er sich aufs Bett.

Hongkong gehörte damals zur Dritten Welt. Das ist heute nicht mehr so. Aber es gibt noch immer eine extreme Klassengesellschaft. 2012 wohnten 114 000 Millionäre in Hongkong, ein Drittel mehr als im Jahr zuvor. Zugleich leben 20 Prozent der Menschen unter dem amtlich festgesetzten Existenzminimum, 100 000 von ihnen in Wellblechbuden auf den Dächern hoher Häuser und in sogenannten Käfighäusern.

Käfighäuser sind Verhaue aus Maschendraht, in denen die Bewohner ihre persönliche Habe verschließen können und in denen sie schlafen. Oft sind die Käfige so klein, dass man sich darin nicht ausstrecken kann. Dafür beläuft sich die Miete auf nur 200 Euro im Jahr – ein günstiger Preis in einer Stadt, in der Wohnraum teurer ist als in jeder anderen Metropole der Welt. Chronischer Platzmangel und eine Kapitalflut aus Festlandchina, anderen asiatischen Staaten und westlichen Ländern haben die Preise explodieren lassen. Laut Angaben des internationalen Maklerhauses Knight Frank kostete Ende 2012 eine hochwertige Immobilie in Hongkong zwischen 37 100 und 41 000 Euro je Quadratmeter.

Wer in Hongkong gut verdient, für den sind solche Preise kein großes Problem. Theoretisch liegt das Bruttoinlandsprodukt der Stadt pro Kopf nach Kaufkraftparität mit 39 000 Euro noch etwas höher als in der Schweiz oder in Schweden. Aber es ist anders verteilt. So stieg das Einkommen der reichsten zehn Prozent in Hongkong im Jahrzehnt bis 2011 um zwölf Prozent auf monatlich knapp 14 000 Euro. Das Einkommen des ärmsten Zehntels dagegen fiel im selben Zeitraum um 16 Prozent, auf etwa 210 Euro im Monat.

Die Arbeitslosenquote in Hongkong liegt bei nur 3,3 Prozent. Sie ist also nicht der Grund für die weit verbreitete Armut. Es sind die in vielen Erwerbszweigen sehr niedrigen Löhne. Die Hälfte aller Haushalte unter dem Existenzminimum hat mindestens ein Familienmitglied, das Vollzeit arbeitet. Um den arbeitenden Armen zu helfen, erhöhte die Stadtregierung kürzlich den Mindestlohn. Er beträgt jetzt drei Euro in der Stunde.

Im legendären Stummfilm „Metropolis“ von Fritz Lang leben alle schönen, reichen, glücklichen Menschen in den oberen Etagen der Stadt. Die anderen knechten weiter unten. „Das funktioniert in Hongkong so ähnlich“, sagt Steffen Müller, der sich mit fröhlichem Sarkasmus von den örtlichen Sitten zu distanzieren versucht. „Wenn das noch eine Weile so weitergeht, dann werden alle, die ein bisschen was besitzen, ihre Füße gar nicht mehr auf den Erdboden setzen. Nur noch die Habenichtse krebsen auf Straßenlevel herum.“ Müller wohnt hoch oben und schaut aus großen Panoramafenstern auf den Hafen. Irgendwo da unten arbeitet Herr Chen.


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mare No. 105

No. 105August / September 2014

Von Justus Krüger und Mathias Bothor

Justus Krüger, Jahrgang 1974, freier Chinakorrespondent, hat es geschafft, dem Großstadtmoloch zu entkommen. Er wohnt in Hongkong in einem kleinen Bauernhaus auf der Insel Lamma, nah genug am Meer, um die Brandung zu hören.

Mathias Bothor, geboren 1962, Fotograf in Berlin, war besonders berührt vom Hongkonger Hafenarbeiter Steve Chen. „Er lebt mit seiner Familie auf engstem Raum, verdient sehr wenig Geld und ist dabei so herzlich und so frei, dass ich ihn zum Abschied fast umarmt und geknutscht hätte.“

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Vita Justus Krüger, Jahrgang 1974, freier Chinakorrespondent, hat es geschafft, dem Großstadtmoloch zu entkommen. Er wohnt in Hongkong in einem kleinen Bauernhaus auf der Insel Lamma, nah genug am Meer, um die Brandung zu hören.

Mathias Bothor, geboren 1962, Fotograf in Berlin, war besonders berührt vom Hongkonger Hafenarbeiter Steve Chen. „Er lebt mit seiner Familie auf engstem Raum, verdient sehr wenig Geld und ist dabei so herzlich und so frei, dass ich ihn zum Abschied fast umarmt und geknutscht hätte.“
Person Von Justus Krüger und Mathias Bothor
Vita Justus Krüger, Jahrgang 1974, freier Chinakorrespondent, hat es geschafft, dem Großstadtmoloch zu entkommen. Er wohnt in Hongkong in einem kleinen Bauernhaus auf der Insel Lamma, nah genug am Meer, um die Brandung zu hören.

Mathias Bothor, geboren 1962, Fotograf in Berlin, war besonders berührt vom Hongkonger Hafenarbeiter Steve Chen. „Er lebt mit seiner Familie auf engstem Raum, verdient sehr wenig Geld und ist dabei so herzlich und so frei, dass ich ihn zum Abschied fast umarmt und geknutscht hätte.“
Person Von Justus Krüger und Mathias Bothor