Parteiarbeit im Packeis

1933: die dramatische Expedition des sowjetischen Frachtdampfers „Tscheljuskin“ ins Nordmeer

Gesetzt den Fall, ein „Reiseveranstalter“ schickte eine Touristengruppe in die russische Arktis. „Nordostpassage“ heißt der Mythos, dem die Reisenden folgten. Brunch am Nordkap, Eisbärenknipsen vor Nowaja Semlja, Champagner am Kap Tscheljuskin – man kennt das. Und gesetzt den Fall, das eistaugliche Schiff wäre in Wirklichkeit ein klappriger Küstendampfer. Niemanden würde das interessieren, solange alles gutginge. Nur Insider würden zu bedenken geben, dass das Schiff recht spät im Jahr unterwegs sei und die Eisbrecher vor Ort ausfielen.

Dann passiert die Katastrophe: Das Schiff wird vom Packeis zerquetscht, mit knapper Not retten sich die Passagiere in der Polarnacht auf eine Eisscholle, bei minus 35 Grad. Die Weltöffentlichkeit erstarrt vor Entsetzen: Sogar ein Baby ist auf dem Eis. Und keiner kann helfen. Die Eisbrecher in der Nähe? Sind so gut wie Schrott. Evakuierung per Flugzeug? Im Prinzip ja, aber da sind die Schneestürme und die riesigen Entfernungen. Rettung per Hundegespann? Wäre möglich, aber das Packeis ist unberechenbar. Die Überlebenschancen? Die Weltpresse fällt das Urteil: Alle werden sterben.

Ein überzeichnetes Szenario?
Alles schon mal dagewesen.

Die Anreise

Am 16. Juli 1933 legt die „Tscheljuskin“ in Leningrad mit Ziel Wladiwostok ab. Das Schiff soll den Nördlichen Seeweg, die Nordostpassage, ohne Überwinterung befahren. Das hat bisher nur der sowjetische Eisbrecher „Sibirjakow“ ein Jahr zuvor geschafft. Aber die „Tscheljuskin“ – 3600 Tonnen, 2500 PS – ist kein eistaugliches Schiff. Man will herausfinden, ob ein gewöhnlicher Frachtdampfer die Route bewältigt. An Bord sind 112 Passagiere, darunter zehn Frauen und ein Kind. Hydrographen, Biologen und Meereskundler begleiten die Fahrt, einige Arktis-Forscher und Arbeiter samt Familien sollen unterwegs auf der Wrangel-Insel abgesetzt werden. Leiter der Expedition ist Otto Schmidt, Chef von Glawsewmorputi, der Hauptverwaltung des Nördlichen Seeweges. Kapitän Woronin, der 1932 die „Sibirjakow“ kommandierte, ist sein wichtigster Mitarbeiter. Beide haben langjährige Eismeer-Erfahrung. Anfang August erreicht ihr Schiff Murmansk.

Der Nördliche Seeweg

Mit 20tägiger Verspätung läuft die „Tscheljuskin“ am 10. August aus dem Hafen von Murmansk. Durch die Matotschkin-Schar (Nowaja Semlja) erreicht das Schiff die Kara-See und trifft auf das erste Treibeis. Bereits nach wenigen Tagen ist die „Tscheljuskin“ am Bug leckgeschlagen, man dichtet den Schaden mit Zementpfropfen ab. Woronin sieht alle Zweifel bestätigt, die er von Anfang an über das Schiff hegte.

Gegen Ende August bekommt die Mannschaft Zuwachs: Ein Mädchen wird geboren und erhält den Namen Karina Wassiljewa – nach dem Geburtsort, der Kara-See. Kurz darauf versperrt Packeis die Nordroute um Sewernaja Semlja. Die „Tscheljuskin“ kehrt um und durchfährt am 1. September die gefährliche Wilkitzki-Straße südlich der Inselgruppe, vorbei am Kap Tscheljuskin, und erreicht die eisfreie Laptew-See. In stürmischer See steuert Woronin die Neusibirischen Inseln an. Unterdessen treffen schlechte Nachrichten ein: Die Tschuktschen-See ist voll mit Packeis, und alle Eisbrecher in weitem Umkreis sind ausgefallen. Durch die Sannikow-Straße südlich der Neusibirischen Inseln fährt die „Tscheljuskin“ in den ersten Septembertagen in die Ostsibirische See. In diesem Monat bildet sich dort bereits neues Eis.

Die Schäden am Schiff häufen sich: Der Kompass zeigt falsch an, ein Spanten bricht, der Rumpf schlägt leck. Man passiert die Bären-Inseln, fährt an der fast eisfreien ostsibirischen Küste entlang, erreicht Mitte September die De-Long-Straße südlich der Wrangel-Insel und nähert sich Mys Sewerny (heute „Schmidt-Kap“).

Kurz darauf treibt Nordwestwind große Mengen Eis an die Küste, die Lage verschlechtert sich dramatisch. Ein Viertel der Schiffsschraube bricht ab, das Ruder reagiert schlecht. Zum Schrecken der Mannschaft treibt ihr vom Eis eingeschlossenes Schiff auf die Koljutschin-Insel zu. Nur knapp der Havarie entronnen, sitzt die „Tscheljuskin“ Ende September unweit der Insel im Eis fest.

Anfang Oktober schickt Schmidt acht Männer, überwiegend Kranke, mit Schlitten zum nahen Festland. Tagelang versucht die Mannschaft, das Schiff freizuschlagen, man setzt Sprengstoff ein. Um jeden Preis will man die Überwinterung vermeiden und durchbrechen.

Das Ziel

Am 4. November treibt die im Packeis eingeschlossene „Tscheljuskin“ in die Bering-Straße – mit dem Heck voran. Ein sonderbares Bild. Eigentlich haben Mannschaft und Schiff ihre Aufgabe erfüllt, aber was nützt ein bewegungsunfähiger Dampfer, der im Eis gefangen ist? Zwei lächerliche Seemeilen trennen das Schiff vom Eisrand, wo die offene See beginnt. Man geht mit Sprengstoff gegen das Eis vor, aber umsonst.

Die Eisdrift

Eine Strömung drückt die „Tscheljuskin“ am 5. November nach Norden, zurück in die Tschuktschen-See. Kaum einer begreift, dass die Überwinterung nun unausweichlich ist. Der beschädigte Eisbrecher „Lütke“, der in der Bucht von Prowidenija liegt, bietet Hilfe an, doch Schmidt lehnt ab. Warum? Hofft der Expeditionsleiter, dass die Strömung bald aufhören wird? Schmidt schätzt die Lage falsch ein.

Anfang Dezember versagt die Maschine, die „Tscheljuskin“ liegt endgültig im Packeis fest. Nun beginnt die große Eisdrift, in der das tote Schiff fast 1000 Seemeilen zurücklegen wird. Schmidt sorgt sich um die Disziplin an Bord und überwacht den Arbeitsdienst, die Parteizelle – man ist ja schließlich Bolschewik – betreibt „Erziehungsarbeit“. Und es gibt eine bordeigene Wandzeitung: „Das Eiskrokodil“. So geht der Dezember vorüber, man empfängt zum Jahreswechsel bolschewistische Grüße aus Moskau. Auch der Januar 1934 verstreicht mit Dienst – und Warten. Worauf?

Der Untergang

Anfang Februar bildet sich in der Nähe der „Tscheljuskin“ ein neues Eisfeld. Am 12. Februar fällt die Temperatur, starker Wind setzt ein, heftige Stöße erschüttern das Schiff. Am Nachmittag des 13. Februar bricht ein Schneesturm aus, Packeis presst das Schiff zusammen. In 200 Meter Entfernung türmt sich dumpf polternd ein Eiswall auf, der in Richtung „Tscheljuskin“ marschiert. Die in Brigaden eingeteilte Mannschaft beginnt mit der Evakuierung des Schiffes. In größter Eile werden alle überlebenswichtigen Geräte, Lebensmittel und die Ausrüstung auf das Eis geschafft, darunter die Radiostation und das Erkundungsflugzeug. Unterdessen ist der Druck so groß geworden, dass eine riesige Eisscholle zerbricht und mit großer Wucht gegen die Backbordseite prallt, die auf 20 Meter Länge aufgerissen wird. Um 15.50 Uhr Moskauer Zeit sinkt die „Tscheljuskin“. Ein Mann kommt dabei ums Leben.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 6. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 6

No. 6Februar / März 1998

Von Henning Sietz

Der Beitrag entstand mit freundlicher Unterstützung des Museums der Arktis und Antarktis, St. Petersburg.

Henning Sietz, Jahrgang 1953, studierte Slawistik und arbeitet als freier Journalist in Hamburg, am liebsten über Themen, die östliche Länder betreffen.

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