Pablo Neruda, der Sammler

Der Schriftsteller hob fast alles auf, was der Ozean auf seinen Strand legte

Hier vor der Insel
das Meer,
welch grosses Meer.
Laufend gebiert es sich selber neu,
es sagt ja, es sagt nein,
und wiederum nein,
ja in Blau, in Schaum,
es sagt nein, und wiederum nein.
Und es vermag nicht stillzubleiben.
Ich bin das Meer, sagt es immer nur
und wirft sich einem Stein entgegen,
kann ihn aber nicht überzeugen;
und mit seinen sieben grünen Zungen
von sieben grünen Hunden,
von sieben grünen Leoparden,
von sieben grünen Meeren,
streichelt es ihn mit Küssen,
es benetzt ihn,
gegen die Brust hämmert es sich
und wiederholt seinen Namen.

Hopplahopp, so purzelten die Silben aus dem Mund des Dichters. Nun lächelt er erwartungsvoll: „Also, was meinst du?“ Der Postbote Mario ist verwirrt. Die beiden sitzen am Meer, kleine Wellen schlappen freundlich auf den Strand von Capri. Dichter und Postbote gucken ins Blaue, und Mario sagt schließlich: „Eigenartig“, er sei richtig seekrank geworden von dem Gedicht. Die Worte, die gingen, „...als ob ich in einem Boot sitze, das auf den Worten immer so hin und her geschaukelt wird“.

Der Dichter guckt verdutzt, lächelt dann feierlich und sagt: „Weißt du, was du gerade gemacht hast, Mario? Eine Metapher!“ Das kann der Junge nun gar nicht glauben. Dichter machen Metaphern, aber Postboten? „Doch Mario! Ja!“ Aber Mario findet: „Die gilt irgendwie nicht, das war ja keine Absicht.“ Dem Dichter ist das vollkommen egal: „Ob Absicht oder spontan, diese Dinge entstehen von allein!“

Der weltberühmte Dichter muss es wissen. Er, Pablo Neruda, sammelt schließlich schon sein Leben lang – unter anderem – Metaphern. Als Kind streifte er durch die wilden Landschaften Südchiles und sammelte Bilder von schneebemützten Vulkanen, türkis leuchtenden Seen, glasklar sprudelnden Flüssen und dichten, unberührten Wäldern, immergrünen Regenwäldern. Und schließlich verbrachte er seine Ferien am Meer: „Als ich zum ersten Mal vor dem Ozean stand, war ich überwältigt. Dort tobte zwischen hohen Bergen die Wut des großen Meeres.“ Und er hörte das „Donnergetöse eines kolossalen Herzens, das Beben des Universums“.

Diese Bilder seiner Heimat formte Pablo Neruda zu Metaphern für die Liebe, das Leben und den Lauf der Welt. Auf 2600 Seiten erschien sein üppiges Gesamtwerk auf deutsch in drei prallen Bänden. Das alphabetische Register liest sich wie ein Nachschlagewerk für Zitate zu allerlei Themen: über den Apfel, die Apotheke, die Araukanische Andentanne oder die Armut; die Freude, die Fruchtbarkeit der Erde, den Frühling oder Füße aus Feuer. Kaum ein Gegenstand, eine Pflanze, ein Gefühl, einen Freund, dem Neruda keine Gedichtzeile gewidmet hätte. Ein unermüdlicher Sammler, der ständig mühsam Ordnung schaffen musste, indem er alles aufschrieb. Und dafür wurde er 1971 mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt.

Neruda schrieb Oden an das Meer, des Meeres Licht, den Meeresmond oder die Meeresnacht; an die Woge, den Pottfischzahn und das Hafenwasser. Das Meer sei für Neruda einerseits Transparenz, „azurblaue Helligkeit und stehe für die Fülle des Lebens, für Hoffnung, Liebe, Fortschritt und Menschlichkeit“, analysiert der Neruda-Experte Karsten Garscha, „andererseits ist es dunkel und tief, schrecklich und von zerstörerischer Gewalt und symbolisiert Tod, Vernichtung, Grausamkeit und Irrationalität.“ Der Dichter selbst drückte es etwas nüchterner aus: „Ich bin ein Liebhaber des Meeres.“ Und: „Ich betrachte das Meer mit größter Selbstlosigkeit, mit der des reinen Ozeanographen, der die Oberfläche und die Tiefe kennt, der dabei kein literarisches Vergnügen, sondern als genießerischer Kenner den Geschmack des Wals auf der Zunge hat.“

1923 geht der Neunzehnjährige aus dem Süden Chiles in die Hauptstadt Santiago. Im abgelegten schwarzen Eisenbahnercape seines Vaters, eines Lokomotivführers, lebt er als brotloser, romantischer Bohemien und schreibt pathetische Liebesgedichte: „Mit der Wut des Schüchternen floh ich in die Poesie.“ Nach drei Jahren bricht er das Studium ab, er hat inzwischen die ersten Gedichtbände veröffentlicht, darunter seine erfolgreichen „Zwanzig Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung“.

Auszug: „Gebeugt werfe ich abends meine elenden Netze aus nach deinen Meeresaugen./Dort reckt sich und verbrennt in himmelhohem Lodern meine Einsamkeit, die mit den Armen um sich schlägt wie ein Ertrinkender.“ Später nennt Neruda diesen Gedichtband „ein schmerzliches Hirtenbuch“. Es enthalte seine „gequältesten jugendlichen Leidenschaften“.

Um reisen zu können, bewirbt er sich für den diplomatischen Dienst und verbringt fünf einsame Jahre als chilenischer Konsul in Asien, er wird nach Buenos Aires, Madrid und Mexiko geschickt. Er ist sein Leben lang unterwegs, bereist Europa, China, Russland und Indien, aber kehrt immer wieder zurück nach Chile, in das Land zwischen Anden und Pazifik.

Tatsächlich lebte Pablo Neruda Ende der vierziger Jahre auch einige Monate auf der italienischen Insel Capri. Als kommunistischer Senator wurde er in Chile verfolgt und flüchtete nach Europa. Aber die Freundschaft zwischen Don Pablo und Mario, dem Postboten, der nur für den Dichter alltäglich aufs Fahrrad steigt, um die Briefe in dem einsamen Haus mit Meeresblick abzuliefern, ist leider die Erfindung des Schriftstellers Antonio Skarmeta. Nach seinem Roman „Mit brennender Geduld“ wurde der Kultfilm „Der Postbote“ gedreht. Ort der Handlung: Capri. Im Buch spielt sie allerdings nicht dort, sondern in Chile. An einem Strand, den es wirklich gibt, wo Pablo Neruda auch wirklich lebte und dichtete und seine Sammlungen aus aller Welt ausbreitete. Metaphern und viele andere Dinge.

Neruda entdeckt „...die wilde Küste von Isla Negra mit ihrem ozeanischen Aufruhr“, als er Ende der dreißiger Jahre aus dem Spanischen Bürgerkrieg nach Chile zurückkehrt. Er findet ein halbfertiges Steinhaus, verloren zwischen kargen Hügeln über einem Strand mit schwarzen Felsbrocken. Isla Negra tauft der Dichter den Platz, und so heißt er bis heute. Der Besitzer, ein spanischer Kapitän, verkauft ihm das Haus mit 1,5 Hektar Land drumherum – genug Platz, um anzubauen.

Seine Erlebnisse in Spanien, der Mord an seinem Freund Federico Garcia Llorca, seine neue Liebe zu der zwanzig Jahre älteren argentinischen Malerin Delia del Carril, die er in Madrid kennenlernte, haben ihn verändert. Vor allem Delia, die engagierte Kommunistin mit dem Spitznamen „hormiga“, Ameise, beeinflusst ihn.

Mit dem Haus findet Neruda einen abgelegenen Ort am Meer, um sich dem „Großen Gesang“ zu widmen. Das Gedichtepos wird die Geschichte der Unterdrückung und Ausbeutung Lateinamerikas erzählen und erst zehn Jahre später fertig werden: nach seiner Zeit als Konsul in Mexiko und Reisen durch Mittel- und Südamerika, nach seinem Beitritt zur kommunistischen Partei und seinem Leben im Untergrund und im Exil. Erfahrungen, die sich auch in seinen Gedichten wiederfinden, in denen er immer stärker auch zum politisch und sozial engagierten Dichter wird. „Ich konnte meinen Gedichten nicht die Tür zur Straße verriegeln“, schreibt Neruda in seinen Memoiren, „wie ich meinem Dichterherzen auch nicht die Tür zur Liebe verriegeln konnte, zum Leben, zur Freude und zur Trauer.“


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 12. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 12

No. 12Februar / März 1999

Von Kirsten Wulf und Anita Back

Adresse: Museo Pablo Neruda, camino vecinal s/n, Isla Negra.

Kirsten Wulf, Jahrgang 1963, lebt als freie Journalistin in Hamburg. Im Sommer erscheint die Neuauflage ihres Reiseführers Anders Reisen Portugal (Rowohlt Verlag).

Anita Back, Jahrgang 1969, studierte Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation in München, absolvierte die Fotografieausbildung am Lette-Verein in Berlin und lebt dort als freie Fotografin. Für beide ist dies ihr erster Beitrag in mare

Mehr Informationen
Vita Adresse: Museo Pablo Neruda, camino vecinal s/n, Isla Negra.

Kirsten Wulf, Jahrgang 1963, lebt als freie Journalistin in Hamburg. Im Sommer erscheint die Neuauflage ihres Reiseführers Anders Reisen Portugal (Rowohlt Verlag).

Anita Back, Jahrgang 1969, studierte Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation in München, absolvierte die Fotografieausbildung am Lette-Verein in Berlin und lebt dort als freie Fotografin. Für beide ist dies ihr erster Beitrag in mare
Person Von Kirsten Wulf und Anita Back
Vita Adresse: Museo Pablo Neruda, camino vecinal s/n, Isla Negra.

Kirsten Wulf, Jahrgang 1963, lebt als freie Journalistin in Hamburg. Im Sommer erscheint die Neuauflage ihres Reiseführers Anders Reisen Portugal (Rowohlt Verlag).

Anita Back, Jahrgang 1969, studierte Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation in München, absolvierte die Fotografieausbildung am Lette-Verein in Berlin und lebt dort als freie Fotografin. Für beide ist dies ihr erster Beitrag in mare
Person Von Kirsten Wulf und Anita Back