Notizen einer Landratte, 52.

In dieser Folge denkt Maik Brandenburg über den Abgang von der Bühne des Lebens nach. Es sind übrigens seine letzten „Notizen einer Landratte“. Von der nächsten Ausgabe an werden Sie an dieser Stelle eine neue Kolumne finden

Dann springe ich über Bord und mach den Abgang.“ Es war die Antwort der alten Dame, wir saßen auf einem Kreuzfahrtschiff irgendwo in der Südsee. Das Meer war blau, der Himmel rot, unter uns ging es ein paar tausend Meter in die Tiefe. Im Cocktail der alten Dame schwammen Eisbrocken. „Es sieht ein bisschen aus wie am Polarkreis“, sagte sie lächelnd. Dort war sie also auch schon. In ihrem Glas begann der arktische Frühling, sie musste sich mit dem Trinken beeilen. Dann orderte sie den nächsten Drink.

Die Frage war: Und was machen Sie, wenn nichts mehr geht? Wenn keine Tabletten mehr helfen, keine Spritzen und auch keine Daiquiris?

Die alte Dame, an die achtzig, war seit Jahren Witwe. Ihr Mann war Beamter gewesen, sie hatten ein Haus in W., im tiefen Westen Deutschlands. Da aber war sie seit Monaten nicht mehr. Sie lebte hier, auf dem Schiff. Sie fuhr kreuz und quer über die Ozeane, sie legte an und wieder ab, sie war schon überall. Sie behauptete, ein Altersheim an Land sei auch nicht billiger, dafür aber nur halb so lustig. „Mein Arzt gehört zur WG“, sagte sie lachend. Sie zählte die Reisen nicht mehr, die sie auf Schiffen wie diesem gebucht hatte. Sie schwärmte vom Licht in Rio de Janeiro, von den Ufern Kapstadts oder den Basaren Indiens. Jakarta war ihr zu dreckig, San Francisco liebte sie, Wladiwostok schien ihr immer noch zu sowjetisch. Wenn es nicht anders ging, ließ sie sich ins Schlauchboot heben, das sie zum Landgang auf irgendeine pazifische Insel brachte. „Ich gehe nie wieder zurück nach W.“, rief sie. „Nicht mal zum Sterben.“

Die Sache mit dem Tod war immer mal wieder Thema auf dem Sonnendeck. Dort saßen weitere Achtzigjährige, ein Maschinenbauingenieur, ein Friseurmeister, ein Philosophieprofessor. Es war der fröhlichste Tisch des ganzen Schiffes. Die anderen Themen waren Mauerbau, O. W. Fischer, aber auch Punk und diese Kneipe in New York, wie hieß sie gleich?

Zum Ende jeden Abends ging es ans Sterben. Die Sache war längst ausgehandelt: Sie würden sich über Bord stürzen, wenn nichts mehr wirkte, keine Tabletten, keine Spritzen, keine Daiquris. Zur Not würde einer dem anderen dabei helfen, über die Reling zu kommen. Der Letzte müsste einen Deal mit dem geldgierigen Barkeeper machen.

Es würde ein schöner Tod werden. Man muss nur schnell tief genug hinunterkommen. Dann würde es kein Ertrinken sein, sondern ein Trip, in etwa so wie auf Heroin. Die alte Dame sagte: „Ich werde einen Morgen mit einem wunderschönen Sonnenaufgang wählen. Es ist ja nicht das Ende.“

Man würde vorher ordentlich einen heben, doch nicht bis zur Bewusstlosigkeit, man wolle den Abgang ja genießen. Der Alkohol sei nur für den Mut, für den entscheidenden Schritt über die Reling. Dann, wie gesagt, müsse man nur noch schnell tief genug runterkommen, etwa zwanzig Meter wohl. Ab da drückt dich das Wasser über dir runter, sagte der Ingenieur, da geht es von allein. „Ein schwerer Stein hilft“, sagte die alte Dame. „Oder der Zapfhahn“, sagte der Ingenieur. „Ich habe einen Schraubschlüssel dafür.“

Während man sinkt, wird die Dunkelheit von immer größerer Helligkeit abgelöst. Alles wird leicht. Das kommt vom Rausch der Tiefe, Taucher kennen das, es ist lebensgefährlich. Man sieht die wunderbunten Fische, ihre Schuppen sind wie seltsames Gefieder, man hört sie zwitschern, man will gar nicht mehr nach oben. Kraken winken fröhlich mit allen Armen, Pottwale schwimmen zum Geleit und lächeln wie in den Zeichnungen aus Kinderbüchern.

Alles schwebt, der Körper, die Seele, irgendwann würde man sanft auf einer blumenübersäten Wiese landen, wie bei Frau Holle. „Das ist besser, als in die Schweiz zu fahren“, sagte der Friseur. „Und billiger“, rief der Philosoph, der als Atheist nicht an die Blumenwiese glaubte. Dann lachten sie. Am Ende des Abends wankten alle, auch die alte Dame, in ihre Kajüten. Sie gingen ganz dicht an der Reling. Sie hatten keine Angst vor dem Tod. Sie neckten ihn.

Ich mache jetzt ebenfalls den Abgang. Vorerst nur aus dem Heft, dies ist meine letzte mare-Kolumne. Danke, dass Sie sie mit mir geteilt haben. Wenn wir uns treffen, bestellen Sie mir gern einen Daiquiri. Und dann lassen Sie uns gemeinsam schweigen. Am besten vom Meer.

mare No. 130

Oktober / November 2018

Von Maik Brandenburg

Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen.

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