Notizen einer Landratte, 44.

In dieser Folge beschäftigt sich unser Kolumnist Maik Brandenburg mit Populärmusik, erklärt den Zusammenhang von Rock ’n’ Roll und Schweizer Hudigääggelern und schildert, wie die Musikkapelle der „Titanic“ wirklich endete

Der schon traditionelle Liverpooler Day of Rock ’n’ Roll stand im Zeichen der kaum noch bestrittenen Verbindungen von Rock ’n’ Roll und Shanty. Gleichwohl schlugen die Wellen hoch.
Zunächst brachte ein Showprogramm ordentlich Stimmung, allen voran die All-time-Hits der Seefahrt „Roll, Britannia! Britannia Roll The Waves!“, „Rock ’n’ Rolling Home“ und „What Shall We Do With The Drunken Sailor“ in der Version des in allen Belangen schwer wiegenden Shantychors „Fad Zeppelin“. Selbstverständlich dabei: Chuck Berrys unsterbliche Interpretation des irischen Shantys „Sea, Sea Rider“, gefolgt von James Browns „I Feel Flood“ und Ray Charles’ „Sitting On The Top Of The Mast“.

Den Tag beherrschten die neuesten Erkenntnisse der Rock-’n’-Roll-Forschung. Für Kopfschütteln sorgte allerdings gleich zu Beginn ein Schweizer Alphornbläser. Die weithin anerkannte These, welche den Rock ’n’ Roll auf das buchstäbliche „wiegen“ (rock) und „wälzen“ (roll) eines Schiffes zurückführt, sei seiner Meinung nach falsch. Ein Schiff wiege und wälze sich nur selten. Vielmehr kracht und knallt und rumst es durch die Gischt, dass Nieten und Nerven erzittern. Bei ihm in den Alpen hingegen werde tagtäglich so mancher Felsen (rock) gewälzt (roll). Somit sei der eigentliche Ursprung des Rock ’n’ Roll wohl eher im schweizerischen Hudigääggeler zu suchen.

Sowieso sollten andere Musikstile, wenn überhaupt, als die Schaumgeborenen des Shantys gelten. Wenn etwa die stählernen Pötte (Heavy Metal) durch die Wellen toben und jeder, der so etwas erleben muss, an der Welt verzweifelt (Blues), dann scheinen die Beziehungen weitaus klarer. Zum Glück gibt es die besonnenen englischen Musikwissenschaftler. Bei ihnen heißt „rock“ auch „Diamant“, während „roll“ ein Slangwort ist, welches den „Müll“ bezeichnet. Insofern war man schnell wieder bei der Schifffahrt, wo Glanz und Elend so nah beieinanderliegen.

Für Furore sorgte auch eine These vom Untergang der „Titanic“, die den Rock ’n’ Roll als einen Unfall der Musikgeschichte darstellt. Bekanntlich gab es seinerzeit eine Kapelle, die den Passagieren zum letzten Tanz aufspielte. Dieser wurde immer wilder, je verzweifelter die Lage war. Schließlich spielte jeder, was er wollte. „Anfangs fiedelten die Jungs noch feine schottische Shantys“, wird ein Überlebender zitiert. „Am Ende erwischte auch sie die blanke Panik. Sie schlugen wie verrückt auf die Celli ein, die Saiten kreischten, einer hatte die Geige sogar wie eine Gitarre in der Hüfte und tanzte im Entengang übers Deck. Schrecklich.“ Gefahr, Chaos, Untergang – es sind genau jene Folgen, die be- sorgte Eltern der Menschheit ein halbes Jahrhundert später angesichts der Rock-’n’-Roll-Welle prophezeiten.

Aufsehenerregend gleichfalls der Vortrag des in Münster ansässigen Musiklehrers Frank Jörn Hähle. In vergilbten Briefen seiner Familie hatte er auch den eines um 1865 ausgewanderten Ahnen entdeckt. Jener Emil Hähle beschwert sich darin über die groben Scherze seiner Kameraden, die ihn während der Äquatortaufe an den Mast gebunden hätten, um dann unter Absingen unflätiger Shantys um ihn herumzutanzen. „Sie waren nichts weiter als Hundshunde, sie heulten die ganze Zeit“, heißt es in den Zeilen.

Ein Nachfahre von Emil Hähle soll aber kein Geringerer als der berühmte Bill Haley sein. Letzterer habe, so Oberstudiendirektor Hähle, seinen als „Urknall des Rock ’n’ Roll“ gefeierten Song „Rock Around The Log“ genau nach jenem Ereignis benannt. Derzeit untersuche er den Brief auf weitere inspirierende Zeilen, sei aber noch nicht fündig geworden.

Der Abend gehörte den Verkaufsveranstaltungen. Ein bordgängiger Rock ’n’ Rollator wusste die ergraute Klientel des Genres zu begeistern, ein navyblauer Rock ’n’ Rolls-Royce mit tiefer gelegten Bässen, vergoldeter Heckflosse und Sessellift zum Ausguck, quatsch, Ausstieg, fand ebenfalls begehrliche Blicke. Der Stand der Bundesrepublik versuchte mit einem politisch korrekten „Sex And Drugs And Rock ’n’ Roll“-Set zu punkten: einer Sammlung von Titelbildern des „Stern“, gebunden an eine Flasche Beck’s Alkoholfrei mit einer Santiano-CD als Bierdeckel. Doch weder dies noch das fein choreografierte Headbanging des Marineblasorchesters Kiel bei seiner Seefahrerhymne „Schatzilein, du musst nicht seekrank sein“ konnte die rundum misslungene Performance der Deutschen retten.

mare No. 122

No. 122Juni / Juli 2017

Von Maik Brandenburg

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Vita Person Von Maik Brandenburg
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