Notizen einer Landratte, 19.

In dieser Folge fragt unser Kolumnist Maik Brandenburg kritisch nach dem Umgang mit Meerjungfrauen, rechnet ab mit dem PC-Wahn im Literaturfeuilleton und plädiert für mehr handgemachte Dichtungen

Laut der US-Behörde National Ocean Service (NOS) gibt es die Meerjungfrauen gar nicht. Auch als Nymphen, Sirenen oder Wasserfeen seien sie nicht existent. Überhaupt gebe es „absolut keine Hinweise auf Humanoide im Wasser“. Das erstaunt, sieht man doch sommers überall menschenähnliche Wesen beim Baden. Der NOS aber bleibt dabei: Man habe sämtliche Akten gesichtet, doch keine einzige amtlich gemeldete Mermaid gefunden. „Irgendwie lag alles mögliche Zeugs in den Registraturen“, vermeldet ein Behördensprecher, „Schuppen, Austernschalen, sogar Kaviarreste.“ Unterlagen über Personen mit Wohnsitz in Gewässern fehlten hingegen. „Da war Nixe“, so der Sprecher.

Offenbar ist man jahrzehntelang dubiosen Forschern aufgesessen. So etwa einem H. C. Andersen aus Kopenhagen, dessen Studie einer Meerjungfrau sogar in der Psychologie Anwendung fand. Als erste Reaktion soll dem dänischen Trickser das H. C. (honoris causa) aberkannt werden. Ähnliche Maßnahmen betreffen Spezies, die ebenfalls unter dem Mantel des Nixentums ein sattes Leben geführt haben. Dies gilt für die als Sirenen firmierenden Seekühe wie für Nymphensittiche: Beiden Arten ist ab sofort der Zugang zu den Universitäten verwehrt. Überprüft werden weitere obskure Lebensformen, die halb Mensch, halb irgendwas sind. Darunter befinden sich Hamburger Fischweiber, bärtige Seebären und segelnde Schweizer. Ob die Gutachten auf an Land lebende Mischwesen wie Barmixer, Köche oder Giftmischer (Apotheker) ausgedehnt werden, wird noch diskutiert.

Warum das Artensterben nun auf die maritimen Fabelwesen übergreift, bleibt indes rätselhaft. Es mehren sich die Sorgen um Klabautermänner und Seeteufel. Entwarnung gibt es immerhin bei Vampiren, Hobbits und Orks, sie vermehren sich geradezu sagenhaft und kriegen problemlos Personalausweise. Vorwürfen einer gezielten bürokratischen Ausmerzung der Wassergeister tritt der NOS derweil scharf entgegen: „Auch Behauptungen aus Märchen, Legenden und verwandten Biotopen wie Sonntagsreden und Talkshowauftritten von Politikern unterliegen der Beweispflicht.“ Gleichwohl, so räumte der Sprecher ein, sei die Sichtung einer Nixe immer noch wahrscheinlicher als die Entdeckung eines eingelösten Wahlversprechens.

Kunstschützer machen dagegen übertriebene Poetical Correctness für den Untergang der Meerjungfrauen verantwortlich. Dabei stehen gerade die Nixen für stilvolle Ferkeleien in der Dichtung. Goethe habe beim Gedanken an eine Nymphe noch über ein „feuchtes Weib“ reimen können. Undenkbar, dass ein Günter Grass so etwas wagen würde, selbst wenn man ihm beibrächte, was ein Reim ist. Verpönt auch, was Heinrich Heine einst über „Die Nixen“ schrieb, die einen schlafenden Edelmann missbrauchen: „Die Dritte lacht, und ihr Auge blitzt, / Sie zieht das Schwert aus der Scheide, / Und auf dem blanken Schwert gestützt, / Beschaut sie den Ritter mit Freude.“ Das ist, fast unverhüllt, Pornografie und gehört in den Kanon, wenn nicht in die Kanonanie der deutschen Literatur.

Auch andere dichterische Rekordleistungen sind wegen der grassierenden Poetical Correctness kaum noch möglich. Unangetastet dürfte darum Goethes „Guinness-Buch“-Eintrag bleiben. Bis dato unerreicht, gelangen ihm im Gedicht „Der Fischer“ die weltweit meisten schlüpfrigen Bemerkungen in nur einer Strophe (Maßeinheit: Ohlalas per Vers). So packte er in gerade acht Zeilen vier sexuelle Anzüglichkeiten – „schwoll“, „wuchs“ „nackt“, „sank er hin“. „Mit solchen Ergüssen“, schrieb der Kritiker Reich- Ranicki, „zeugte Goethe ungezählte Generationen von Poeten, ach was, Poethen.“ Heute hängt die Latte der Poesie bekanntlich tief unter der Gürtellinie, besonders in Kolumnen und Comedys. Doch das sei, so Reich-Ranicki, nicht dem „alten Stecher in Weimar“ anzukreiden.

Goethe dichtete übrigens noch von Hand. Das Aufkommen industriell gefertigter Gedichte (Dampfhammerlyrik) bis hin zu modernen Schreibprogrammen machte guter maritimer Dichtung und vor allem den darin lebenden Nixen nun wohl den Garaus.

mare No. 96

No. 96Februar / März 2013

Von Maik Brandenburg

Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen.

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