Nordseekrabbe mit Heimweh

Seit der 1930ern tingelte Lale Andersen über Deutschlands Varietébühnen. Immer wieder musste sie ihren Hit „Lili Marleen“ singen. Erholung und ihren Seelenfrieden fand sie auf Langeoog

Im Februar 1945 gelang es Liese-Lotte Helene Berta Wilke, geborene Bunnenberg, sich mit ihrem jüngsten Sohn, zwei Koffern und einem Fahrrad aus dem Berliner Bombenhagel auf die stille ostfriesische Insel Langeoog durchzuschlagen. Sie kommen bei Einheimischen unter; die 40-jährige Flüchtlingsfrau besorgt Lebensmittel gegen Näharbeiten. Der Frühling kommt, da lernt sie Möweneier zu sammeln. Das Dritte Reich versinkt, die Alliierten nehmen die Insel in Beschlag. Frau Wilkes 16-jähriger Sohn scharwenzelt um die kanadischen Besatzungssoldaten herum und macht sich wichtig. „My name is Michael – ich bin der Sohn von Lale Andersen, die ,Lili Marlen‘ gesungen hat!“ Die Mutter des vermeintlichen Hochstaplers wird einbestellt. Nach Prüfung ihrer Papiere bietet der überwältigte Offizier ihr erst einmal eine North-State-Zigarette an, dann bestellt er ein Konzert für kanadische und deutsche Verwundete in der Lesehalle des Langeooger Rathauses. Und ein Autogramm: „Write: From Lili Marleen with best wishes!“ Da ist er wieder, ihr siamesischer Zwilling. Ihre Doppelgängerin, die sich auch durch Zusammenbruch und Flucht nicht abschütteln ließ. Was sie ebenso oft als Fluch wie Segen empfindet.

Liese-Lotte wurde 1905 in Bremerhaven Lehe geboren; ihr Vater ist Schiffssteward, meist auf See. Sie vergöttert ihn. Er bringt den Hauch der weiten Welt, ein Akkordeon und die Liebe zum Meer ins Kinderzimmer. Mit 15 schmeißt Liese-Lotte die Schule, ein gutes Jahr später heiratet sie den umschwärmten Bremerhavener Maler Paul Ernst Wilke, einen Spätimpressionisten, der Schiffe malt und sich ausgiebige Studienreisen gönnt. Liese-Lotte liest Lyrik aus Reclam-Heftchen und tröstet sich fast jeden Abend mit Theaterbesuchen. Mit 24 Jahren hat sie drei Kinder und die Nase voll. Im Oktober 1929 bringt sie die Kleinen zu Mutter und Schwester, den Schlüssel zur ehelichen Wohnung zum Nachbarn, kauft eine Fahrkarte, einfach, nach Berlin und stolpert ungelernt, aber mit brennendem Ehrgeiz auf die Bretter, die ihr die Welt bedeuten.

Lale Andersen, wie sich Liese-Lotte Wilke schon zu Berlins Babylon-Zeiten nennt, ist zwar süchtig nach Rampenlicht, wie sie ihren Tagebüchern anvertraut. Sie singt aber am liebsten Chansons von Brecht, Weill, Tucholsky, Ringelnatz, Kästner. Und Seemannslieder: als strohblonder Flapper im Matrosenkostüm, angekündigt auf Tourneeplakaten als „Die Nordsee persönlich!“. Ihre leicht raue, unpathetische Stimme ist für beide Genres wie gemacht. In den dreißiger Jahren tingelt Lale Andersen durch Deutschland, steht auf Varietébühnen, in großen Konzertsälen und biederen Kurhäusern.

Als ihr Exmann 1932 überraschend gepfändet wird und keine Alimente mehr zahlt, muss sie die Kosten für die Unterbringung der Söhne in Kinderheimen und Internaten allein aufbringen und die gemeinsamen Ferien finanzieren. Den Gerichtsvollzieher kennt sie bald gut.

Nach Kriegsausbruch wird sie wie Marika Rökk und Grethe Weiser zu Fronttourneen in die besetzten Gebiete abkommandiert, Dänemark, Frankreich, Polen. Nur in Belgrad ist sie nie gewesen. Doch ausgerechnet von dort aus steigt sie zu Weltruhm auf. Der Soldatensender Belgrad, 1941 eingerichtet, um die Wehrmacht von Narvik bis Nordafrika zu beschallen, hat nur eine magere Plattensammlung, darunter einen Ladenhüter namens „Lied eines jungen Wachtpostens“. Der Sender spielt es dreimal täglich, dann hängt den Redakteuren die Platte zum Hals heraus.

Mit der Protestflut von Feldpostbriefen haben sie nicht gerechnet. Die Soldatenbraut Lili Marleen war für die Landser zur virtuellen Geliebten geworden, die sie sich nicht nehmen ließen. Daraufhin beschließt Radio Belgrad, das Lied jeden Abend um zehn als Zapfenstreich zu spielen. Da geht es erst richtig los. Die Auflage von „Lili Marleen“, bei Erscheinen 1939 gerade 700 mal verkauft, schnellt auf über eine Million. So etwas hat es Deutschland noch nie gegeben.

Goebbels missfällt „die Schnulze mit dem Leichentuch“, er findet sie defätistisch. Es muss ihm zu Ohren gekommen sein, dass auch der Feind gerührt mithört und jeden Abend wie auf Kommando die Waffen auf beiden Seiten der Schützengräben schweigen, wenn Andersens Stimme aus dem Äther kommt. Es kommt ihm zupass, dass die Frau sich mit einem Funktionär anlegt – sie soll ihn geohrfeigt haben, als er zudringlich wird –, der auf Rache sinnt. 1942 wird sie „wegen Beziehung zu Juden“ verhaftet, aus der Reichskulturkammer ausgeschlossen und mit Auftrittsverbot belegt.

Der Megastar bekommt zwar weiterhin waschkorbweise Feldpost, nagt aber am Hungertuch und unternimmt in Berlin einen Selbstmordversuch. Erst als die BBC 1943 spekuliert, Goebbels habe die Ikone der Soldaten in einem Konzentrationslager verschwinden lassen, lässt man sie neun Monate später wieder singen. Bedingung: nie wieder vor Soldaten – und nie wieder „Lili Marleen“.


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mare No. 130

Oktober / November 2018

Von Paula Almqvist

Paula Almqvist, Autorin in Hamburg, hörte „Lili Marleen“ zum ersten Mal mit 17 beim Schüleraustausch in ihrer Marseiller Gastfamilie – die das Lied für eine Art deutsche Nationalhymne hielt.

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Vita Paula Almqvist, Autorin in Hamburg, hörte „Lili Marleen“ zum ersten Mal mit 17 beim Schüleraustausch in ihrer Marseiller Gastfamilie – die das Lied für eine Art deutsche Nationalhymne hielt.
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Vita Paula Almqvist, Autorin in Hamburg, hörte „Lili Marleen“ zum ersten Mal mit 17 beim Schüleraustausch in ihrer Marseiller Gastfamilie – die das Lied für eine Art deutsche Nationalhymne hielt.
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