Nordostpassage

Der Klimawandel macht’s möglich: Der polare Seeweg entlang ­Sibiriens Küste wird wegen der geringeren Eismenge zur Alternative für die Ost-West-Handelsschifffahrt. Oder etwa doch nicht?

Wie eine Formation böser Schwäne nähern sich am 5. Juni die ersten Eisschollen dem holländischen Segelschiff auf seinem Weg nach China, quer durch das Nord­polar­meer vor Sibirien. Dieses Eisfeld lässt sich noch vorsichtig durchfahren, doch schon das übernächste ist zu einer schorfig aufgeworfenen Masse zusammengefroren, die einen Umweg erzwingt. Vorbei an einem stinkenden Walkadaver, neugierigen Eisbären und immer neuen Eisschollen. Der flotte Nordnordostkurs wird zu einer langsamen Zickzacklinie. Die Nordostpassage durch den Arktischen Ozean mag die kürzeste Route aus der Nordsee in den Pazifik sein, aber sie ist unberechenbar. Das Schiff wird sein Ziel nie erreichen.

Diese Erfahrung machte Willem Barents, der berühmte Navigator aus Amsterdam, im Jahr 1596 im Nordosten der heute nach ihm benannten Barentssee. Schon wenige Wochen nach dem Treffen mit den falschen Schwänen zerbarst seine Galeone im Meereis. Die Besatzung rettete sich an die Nordspitze von Nowaja Semlja (Neuland), einer lang gezogenen, damals menschenleeren Doppelinsel auf der Grenze zwischen dem europäischen und dem asiatischen Teil des Arktischen Ozeans. Für Barents endete der Seeweg nach China auf 76 Grad Nord in einer finsteren Sackgasse aus Eis, 1500 Kilometer vom Nordpol entfernt. Kein westeuropäisches Schiff hatte es je bis hierhin geschafft. Erst im darauffolgenden Juni konnten sich die Holländer in ihrem Beiboot nach Amsterdam zurückkämpfen. Doch vier von ihnen, darunter Barents, erlagen vorher den Strapazen der Polarüberwinterung, auf die sie mangels Erfahrung nicht vorbereitet waren.

Heute hätte Barents deutlich weniger Eis zu überwinden. Seit 1979, dem Beginn der Vermessung mit Satellitentechnik, ist die sommerliche Polkappe um die Hälfte geschrumpft. Auf der Nordostpassage muss kein Kapitän mehr mit einer Zwangspause im Meereis rechnen. Fast jeden Sommer öffnen sich Fahrwasser, die arktistaugliche Handelsschiffe der Gegenwart problemlos durchqueren können. 

Gegen das auf der Strecke verbleibende Eis, das vor allem in den Meerengen zwischen Sibiriens Küste und vorgelagerten Inseln wieder zusammenfriert, helfen gewaltige, teilweise atomgetriebene ­Eisbrecher unter russischer Flagge. Sie erreichen jeden Punkt zwischen Barentssee, Nordpol und der Beringstraße. Die reguläre Naviga­tions­perio­­de hat sich in den letzten Jahren weit in den Juni und November verschoben, doch auch in der Polarnacht mit ihren Extremtemperaturen und Stürmen sind Transporte zwischen Atlantik und Pazifik möglich. Die Eisbildung wird aus der Luft und aus dem Weltraum verfolgt, die Schiffe im Seegebiet sind in Echtzeit mit der Welt verbunden. Ein Netz aus Wetter- und Seenotrettungsstationen soll die arktische Schifffahrt so sicher und planbar machen wie eine Ostsee­überquerung. 

Ein Traum, der nicht nur Barents’ Geldgeber, Amsterdamer Kaufleute, sondern über Jahrhunderte auch die englische und skandinavische Konkurrenz umtrieb, wird wahr. Der polare Weg zu den Reichtümern Chinas, zwischen dem ostasiatischen und westeuropäischen Wirtschaftsraum liegt endlich offen. Je nach Start- und Zielhafen ist die Route 20 bis 60 Prozent kürzer als die Standardverbindung durch den Suezkanal, sie spart Arbeitszeit, Treibstoff und Emissionen. 

Darüber freute sich niemand mehr als im September 2009 die Bremer Reederei Beluga Shipping. Sie hatte gerade zwei Schwerguttransporter aus dem südkoreanischen Ulsan mit Kraftwerkbauteilen ins westsibirische Nowy Port und von dort nach Rotterdam geschickt. Beluga Shipping hatte sich zu der Testfahrt entschlossen, weil im Sommer des Vorjahrs die Nordostpassage zum zweiten Mal durchgehend eisfrei gewesen war, zumindest auf den verpixelten Aufnahmen der Wettersatelliten. Auf nennenswerten Eisgang stießen die „Beluga Fraternity“ und die „Beluga Foresight“ dann nur in der Wilkizki-Straße, dem Nadelöhr zwischen der Nordspitze Asiens und dem Gletscher-archipel Sewernaja Semlja (Nordland). Hier war endlich der begleitende Atomeisbrecher gefordert, die schwarz-rot lackierte „50 Let Pobedy“ (50 Jahre Sieg). Sowjetische Ingenieure hatten sie für den 50. Jahrestag des Weltkriegsendes gebaut, doch statt den Ruhm der Sowjetmacht durch die Arktis zu tragen, eskortiert der 30 Meter breite Koloss mit seinen 71 000 PS nun kapitalistische Schiffe durchs Eis.

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mare No. 162

mare No. 162Februar / März 2024

Von Andreas Renner und Charles Xelot

Andreas Renner, Jahrgang 1964, ist Historiker und Professor für Russland-Asien-Studien an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er hat zu russischem Nationalismus, zur Medizingeschichte und Fotografie publiziert. Seit er von Japan aus Russlands Küste im Westen gesehen hat, erforscht er Russland als asiatische und maritime Macht, nicht mehr nur als Teil Ost­euro­pas. Nun erscheint im mareverlag sein Buch „Nordostpassage“.

Charles Xelot, Jahrgang 1985, lebt als freier Fotograf in Marseille. Für dieses Projekt ­unternahm er neun Reisen zur Nordostpassage, vier davon auf Schiffen, fünf an der ­Küs­te. In den insgesamt acht Monaten beeindruckten ihn vor allem die Seeleute, die ein ­nomadisches Leben führen, immer mit der gleichen Routine, den gleichen Kollegen, den gleichen Gefahren. Nur die Landschaft bietet Abwechslung: Der gefrorene Ozean zeigt sich in Tausenden Schattierungen vom dunkelsten Grau bis zum strahlendsten Weiß.

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Andreas Renner, Jahrgang 1964, ist Historiker und Professor für Russland-Asien-Studien an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er hat zu russischem Nationalismus, zur Medizingeschichte und Fotografie publiziert. Seit er von Japan aus Russlands Küste im Westen gesehen hat, erforscht er Russland als asiatische und maritime Macht, nicht mehr nur als Teil Ost­euro­pas. Nun erscheint im mareverlag sein Buch „Nordostpassage“.

Charles Xelot, Jahrgang 1985, lebt als freier Fotograf in Marseille. Für dieses Projekt ­unternahm er neun Reisen zur Nordostpassage, vier davon auf Schiffen, fünf an der ­Küs­te. In den insgesamt acht Monaten beeindruckten ihn vor allem die Seeleute, die ein ­nomadisches Leben führen, immer mit der gleichen Routine, den gleichen Kollegen, den gleichen Gefahren. Nur die Landschaft bietet Abwechslung: Der gefrorene Ozean zeigt sich in Tausenden Schattierungen vom dunkelsten Grau bis zum strahlendsten Weiß.

Person Von Andreas Renner und Charles Xelot
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Andreas Renner, Jahrgang 1964, ist Historiker und Professor für Russland-Asien-Studien an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er hat zu russischem Nationalismus, zur Medizingeschichte und Fotografie publiziert. Seit er von Japan aus Russlands Küste im Westen gesehen hat, erforscht er Russland als asiatische und maritime Macht, nicht mehr nur als Teil Ost­euro­pas. Nun erscheint im mareverlag sein Buch „Nordostpassage“.

Charles Xelot, Jahrgang 1985, lebt als freier Fotograf in Marseille. Für dieses Projekt ­unternahm er neun Reisen zur Nordostpassage, vier davon auf Schiffen, fünf an der ­Küs­te. In den insgesamt acht Monaten beeindruckten ihn vor allem die Seeleute, die ein ­nomadisches Leben führen, immer mit der gleichen Routine, den gleichen Kollegen, den gleichen Gefahren. Nur die Landschaft bietet Abwechslung: Der gefrorene Ozean zeigt sich in Tausenden Schattierungen vom dunkelsten Grau bis zum strahlendsten Weiß.

Person Von Andreas Renner und Charles Xelot