Neues Leben aus dem Toten Meer

Viele kommen, um sich von innen und außen zu kurieren

Es knistert leise, wenn der Wind vom Gebirge durch die trockenen Palmzweige weht. Dann straffen sich die drei Flaggen über dem kleinen Fort am Toten Meer: die mit dem Stern des David, die mit dem Wappen des Kibbuz En Gedi und die mit dem weißen Kreuz auf rotem Grund, die Fahne Dänemarks. Von seinem Hochsitz blickt ein israelischer Soldat auf das schiefe Haus mit dem geflochtenen Dach, das aus der Ferne wie Pippi Langstrumpfs Villa Kunterbunt wirkt.

Die See ist rau, die Klippe steil und der Strand steinig. Carl und die Kinder liegen auf einem sandigen Felsvorsprung, dort, wo die älteren Frauen und Männer sie nicht mehr sehen können. Carl betreut 15 Kinder zwischen sieben und 16 Jahren. 15 Kinder mit kahl geschorenen Köpfen. Sie liegen auf 15 grauen Feldbetten, daran baumeln 15 grüne Feldflaschen.

Neben Carls Ellenbogen tickt ein Küchenwecker. Die Kinder lesen Bücher über Pferde, Abenteuer von Astrid Lindgren, und das Thermometer klettert auf 48 Grad. Alle 30 Minuten bimmelt Carls Wecker. Dann gibt der stämmige Däne ein Kommando: „Veeend om!" Keuchend drehen sich die nackten, kleinen Leiber um - und braten bäuchlings weiter. „Das ist harte Arbeit", sagt Carl.

Aber noch sind alle guter Dinge. Die neue Gruppe ist in der Trainingsphase. Sechs Uhr aufstehen, zwei Stunden Schule, Frühstück. Dann gehen sie in die Sonne, jeden Tag eine halbe Stunde länger. Während der vollen Behandlung liegen sie acht Stunden hier und trinken in dieser Zeit fünf Liter Wasser. Jede Stunde steigen sie von einer Rampe ins Meer. Das Salzwasser ist kühl, und es macht die Badenden leichter als auf dem Mond. Das hätte nicht mal Pippi Langstrumpf gekonnt.

„Nur am Toten Meer haben Sonne und Wasser einen so wundersamen Effekt auf die Psoriasis", sagt Carl. Psoriasis - das ist die Fachbezeichnung für vier verschiedene Formen der Schuppenflechte. Psoriasis ist kein schöner Anblick. Es bilden sich dunkle Flecken auf der Haut, eine Art Leder, das Schuppen absondert. Die Hautkrankheit ist nicht ansteckend.

Niemand weiß genau, wo sie herkommt. Oft tritt sie schon im frühen Kindesalter auf, begünstigt durch Stress, Ängste, Psychosen. Sie beginnt an Ellenbogen, Knien und Knöcheln, frisst sich langsam über Arme, Beine und das Gesicht und befällt dann den ganzen Körper. Wer sie einmal hat, wird sie nie mehr vollständig los. Psoriasis ist ein Schicksal, ein Leben im Aussatz. Weltweit leiden über 200 Millionen Menschen daran, aber niemand in Helsingør, jedenfalls niemand, den Michelle kennt.

„Ich dachte, ich bin der einzige Mensch auf der Welt, der so aussieht. Die anderen Kinder haben mir immer hässliche Namen gegeben", sagt Michelle. Seit sie fünf Jahre alt ist, lebt sie mit der Flechte. Seit sie zehn wurde, verbringt sie jeden Frühling und jeden Herbst in der dänischen Psoriasis-Klinik am Toten Meer. Erst hier, in dem kleinen Haus mit dem Palmdach und in der Schule des nahen Kibbuz En Gedi, hat sie Freunde und Freude am Leben gefunden.

Jede Woche Vollpension kostet 7000 Mark. Der dänische Staat ist der einzige der Welt, der voll dafür aufkommt. „Für die Kinder sind vier Wochen Behandlung eine lange Zeit", sagt Betreuer Carl. Doch der Heilfaktor ist enorm: „Danach ist die Flechte weg. Mindestens ein halbes Jahr, manchmal bis zu sieben Jahren. Kein Medikament, keine Bestrahlung schafft das."

Michelle wird jetzt bald dreizehn. Das Meer, in dem es kein Leben gibt, hat ihr neues Leben geschenkt. Es heilt ihre Haut, es wäscht die hässlichen Namen von ihr ab. Und es hat ihren Sinn fürs Schöne geschärft. „Ich mag das Tote Meer, die Weite, das Licht." Ihr Arm schweift von Jericho nach Jordanien. „Es ist ... es ist so seltsam."

Wie eine Schüssel Götterspeise in einer unnatürlichen Farbe liegt es in seinem 400 Meter tiefen Graben. Seit die Kontinentalverschiebung das Tote vom Mittelmeer trennte, sorgt die Verdampfung des Wassers für stetig steigenden Salzgehalt. Heute sind es 28,5 Prozent - etwa acht Mal so hoch wie im Atlantik. Das Tote Meer ist der tiefste Punkt auf der Erde und liegt 396 Meter unter dem Meeresspiegel. Umgeben ist es von der Wüste Negev und den zerklüfteten Bergen des Moab, von deren Gipfel herab Moses das Gelobte Land sah. Je nach Sonnenstand changieren die Höhenzüge sandbeige und feuerrot, in einer Atmosphäre, die mal milchig weiß, mal transparent erscheint.

Hierher kommen sie aus aller Welt, um Haut, Lunge, Knochen, Gelenke und die Seele zu heilen. Sie kommen, weil man nirgendwo sonst so allein sein kann mit seinem Gott. Wer auch immer das sein mag, Jahve, Allah, der Wodka oder das Ego.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 19. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 19

No. 19April / Mai 2000

Von Helmut Kuhn und Russell Liebman

Helmut Kuhn, Jahrgang 1962, volontierte bei der deutsch-jüdischen Zeitung Aufbau in New York, arbeitete dort als freier Autor und lebt nun in Berlin. In mare No. 18 besprach er das Restaurant „Coin des Pêcheurs" auf Martinique.

Russell Liebman, 1966 in New York geboren, lebt in Berlin. Für mare fotografierte er u. a. die Steinfischer von Brasilien (in No. 8)

Mehr Informationen
Vita Helmut Kuhn, Jahrgang 1962, volontierte bei der deutsch-jüdischen Zeitung Aufbau in New York, arbeitete dort als freier Autor und lebt nun in Berlin. In mare No. 18 besprach er das Restaurant „Coin des Pêcheurs" auf Martinique.

Russell Liebman, 1966 in New York geboren, lebt in Berlin. Für mare fotografierte er u. a. die Steinfischer von Brasilien (in No. 8)
Person Von Helmut Kuhn und Russell Liebman
Vita Helmut Kuhn, Jahrgang 1962, volontierte bei der deutsch-jüdischen Zeitung Aufbau in New York, arbeitete dort als freier Autor und lebt nun in Berlin. In mare No. 18 besprach er das Restaurant „Coin des Pêcheurs" auf Martinique.

Russell Liebman, 1966 in New York geboren, lebt in Berlin. Für mare fotografierte er u. a. die Steinfischer von Brasilien (in No. 8)
Person Von Helmut Kuhn und Russell Liebman