Neue Liebe

Eine Handvoll visionärer Planer und Hundertschaften von Künstlern aller Genres haben die Normandie in einem halben Jahrhundert von einem Bauernland in ein Traumziel der Hautevolee verwandelt

Den Schaulustigen und Tagedieben, die sich Anfang August 1824 am lang gezogenen Strand des geruhsamen Hafenstädtchens Dieppe gleich zu Dutzenden versammelt hatten, entging nicht das geringste Detail eines bizarren Rituals, das direkt vor ihren Augen erstmals vollzogen wurde. Staunend sahen sie dabei zu, wie die Herzogin von Berry, Prinzessin Maria Karolina von Neapel, erhobenen Hauptes und mit entschlossener Miene auf das Meer zuschritt, um darin ein Bad zu nehmen. Dass es sich dabei um keine banale Körperertüchtigung, sondern um eine hochoffizielle Angelegenheit handelte, bewies der große Aufwand, der für diese Kontaktaufnahme eines einzelnen, noch dazu auserwählten Menschen mit einem fremden Element betrieben wurde: Mit einer Kanone wurden Salutschüsse abgefeuert, als würde eine königliche Geburt angekündigt oder ein Freudenfest gefeiert.

Eskortiert wurde die abenteuerlustige und recht extravagante Mittzwanzigerin, die als Sommergast vor wenigen Tagen mitsamt ihrer Entourage hier am Ärmelkanal abgestiegen und der jetzt keinerlei Furcht vor den kühlen Fluten anzumerken war, vom Bürgermeister höchstpersönlich, in seine pompöse Amtstracht gewandet und mit allen institutionellen Insignien versehen. Neben dem Oberhaupt von Dieppe erwiesen der mutigen Dame weitere Honoratioren die Ehre, und überdies war noch ein Inspektor, seines Zeichens Badearzt, anwesend, um den ordnungsgemäßen Ablauf des Vorgangs zu überwachen.

Die Herzogin, ihrerseits in ein langes Wollkleid gehüllt, eine Mütze tragend und mit Stiefelchen an den Füßen, die sie im Watt vor umherlaufenden Krebsen und kantigen Muschelschalen schützen sollten, nahm Huldigungen und Applaus entgegen und ließ sich von zwei kräftigen Badehelfern begleiten. Auch sie hatten sich für die Begegnung mit den Wellen herausgeputzt und trugen blau gestreifte Hosen und Westen, große Lederhüte und rote Schals mit gelben Fransen. Es ging sittsam und züchtig zu; niemand unter den Badewilligen zeigte, abgesehen von Händen und Gesicht, nur einen Millimeter Haut.

Kaum dass alle drei mit den heranrauschenden Wassermassen in Berührung kamen, gaben sie sich einem bain à la lame hin: Die starken Männer hoben Maria Karolina in die Höhe, trugen sie ein Stück weit und hielten sie der Flut entgegen, so dass sie nicht etwa schwimmen musste, sondern oberhalb der Wogen nur ganz sacht mit dem Meer in Berührung kam. Diese Bewegung, die einem scheuen Kuss mit dem Ozean glich, wiederholte sich einige Male, dann trat man zu dritt den Rückzug an. Der Inspektor vergewisserte sich, dass die Dame während des Zeremoniells keinen Schaden genommen hatte und die Begegnung mit dem Nass ihrer Gesundheit auch wirklich zuträglich war, und die Herzogin, die an dem neuen Spiel Gefallen gefunden hatte, ließ es nicht bei der Meerestaufe bewenden, sondern verspürte nunmehr Lust auf Wiederholung: Vier Jahre lang stattete sie Sommer für Sommer Dieppe einen Besuch ab und ging mit ihrem Lieblingsbadehelfer, einem ortsansässigen Schreiner, regelmäßig baden. So lange, bis auch sie eigenständig „schwimmen“ und auf Hilfe verzichten konnte.

Was ihr und zuvor bereits der Kaiserinmutter Hortense de Beauharnais behagte, fand rasch Nachahmer und wurde in Adelskreisen zum Trend: Badespaß in nordischen Gefilden. Das royale Plaisir wuchs sich ab den 1840er-Jahren zu einer beliebten Freizeitbetätigung aus, zu einer chicen Tradition. Und es dauerte nicht lange, bis zahlreiche andere aristokratische Müßiggänger und Vergnügungssüchtige dies- und jenseits des Kanals die majestätischen, völlig unberührten Küstenlandschaften der Normandie in Besitz nahmen: eine Invasion durch die Reichen und Privilegierten sowie das gehobene einheimische Bürgertum. Und zwar keineswegs behutsam, sondern entschieden und hoch motiviert. Wobei die Ausländer, vor allem vermögende britische Exilanten, zunächst deutlich dominierten. Bald schon kursierte das zweibändige, vom großen William Turner illustrierte Kompendium „Romantic Normandy“ in den Kreisen der High Society, schwärmte man in den populären John-Murray-Reisehandbüchern aus London über die faszinierende, unverbaute Region im Nachbarland und pries bevorstehende Sommerfrischen in diesem Abschnitt von la douce France.

Zwar bringt man gemeinhin, was Frankreich betrifft, die Übernahme des in England bereits im 18. Jahrhundert in Mode gekommenen Badetourismus, wie er sich etwa in Brighton, Margate oder Blackpool entfaltet hatte, noch immer eher mit dem Süden in Verbindung, mit der mythischen Côte d’Azur etwa oder mit Biarritz mit seinen atlantischen Reizen, für das die Kaiserin Eugénie eine große Leidenschaft an den Tag legen sollte. Doch gerade die Normandie war es, die sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts zur wichtigsten Seebad- und Fremdenverkehrsdestination im französischen Hexagon mausern sollte.


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mare No. 128

Juni / Juli 2018

Von Jens Rosteck

Jens Rosteck, Jahrgang 1962, promovierter Musikologe und Literaturwissenschaftler mit langjähriger Frankreichvergangenheit, lebt als Musikforscher, Kulturhistoriker und Biograf im Badischen. Für mare schrieb er über Salvador Dalí, Henri Matisse, George Sand und Frédéric Chopin. Im mareverlag erschien – nach seinem Inselporträt Mein Ibiza und seiner Jacques-Brel-Biografie „Der Mann, der eine Insel war“ – unlängst seine Hommage an eine weitere prominente Bewohnerin der Normandie: Marguerite Duras – Die Schwester der Meere.

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Vita Jens Rosteck, Jahrgang 1962, promovierter Musikologe und Literaturwissenschaftler mit langjähriger Frankreichvergangenheit, lebt als Musikforscher, Kulturhistoriker und Biograf im Badischen. Für mare schrieb er über Salvador Dalí, Henri Matisse, George Sand und Frédéric Chopin. Im mareverlag erschien – nach seinem Inselporträt Mein Ibiza und seiner Jacques-Brel-Biografie „Der Mann, der eine Insel war“ – unlängst seine Hommage an eine weitere prominente Bewohnerin der Normandie: Marguerite Duras – Die Schwester der Meere.
Person Von Jens Rosteck
Vita Jens Rosteck, Jahrgang 1962, promovierter Musikologe und Literaturwissenschaftler mit langjähriger Frankreichvergangenheit, lebt als Musikforscher, Kulturhistoriker und Biograf im Badischen. Für mare schrieb er über Salvador Dalí, Henri Matisse, George Sand und Frédéric Chopin. Im mareverlag erschien – nach seinem Inselporträt Mein Ibiza und seiner Jacques-Brel-Biografie „Der Mann, der eine Insel war“ – unlängst seine Hommage an eine weitere prominente Bewohnerin der Normandie: Marguerite Duras – Die Schwester der Meere.
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