Heute soll das Wasser kommen. Vor jedem der kleinen Holz- und Lehmhäuser ist ein Wasserhahn installiert worden. Die Menschen horchen, ob in den Rohren schon Wasser rauscht. Doch noch herrscht Stille an diesem Märzmorgen 1992, wie fast immer in dem chilenischen Fischerdorf Chungungo, 330 Seelen zwischen Pazifik und Atacama-Wüste. Es ist dieselbe Stille wie in den kargen, nur von ausgedorrtem Gestrüpp bewachsenen Bergen, an deren Fuß das Dorf liegt. Der Ort scheint wie gelähmt, er hat kein Wasser.
Der nächste Brunnen ist 40 Kilometer entfernt, der nächste Fluss 20 Kilometer. Beinahe absurd wirken die Wasserwogen des Pazifiks, wie sie an den steinigen Strand, das ausgetrocknete Land branden. In Chungungo gibt es kaum Bäume, kaum Büsche, keine Blumen, wenige Vögel oder Nutztiere. Und nur ein paar Menschen. Viele sind in die großen Städte abgewandert, seit in den siebziger Jahren das Bergwerk in der Nähe schloss. Doch selbst die Männer, die blieben, sind selten im Ort. Den ganzen Tag sammeln sie Kupfer in den Bergen, fahren zum Fischen aufs Meer oder tauchen nach geschützten Meeresschnecken – die bringen am meisten. Geld hat hier fast niemand.
Bis zu diesem Morgen vor zwölf Jahren kam das Wasser per Lastwagen aus dem fernen Brunnen nach Chungungo. Die Menschen lagerten es in rostigen Fässern am Straßenrand. Mit 14 Litern am Tag musste ein Einwohner auskommen – jeder Deutsche verbraucht täglich 130 Liter.
„Wahrscheinlich kommt aus dem Wasserhahn nur Nebel oder Rauch“, witzelt ein Fischer. Auf dem Berg über dem Ort haben Wissenschaftler Konstrukte aufgestellt, riesigen Volleyballnetzen gleich. Die Forscher gehören zu einer neuen Berufsgruppe: Sie sind Nebelfischer. In einer bizarren Umkehrung des traditionellen Fischens stellen sie auf dem Land Netze auf, um damit Wasser zu fangen – aus dem Nebel, der täglich bis zu 20 Stunden in dichten Schwaden vom Meer über die Berge zieht.
Jetzt regt sich etwas in den Rohren. Die Menschen drehen die Hähne auf. Das Wasser kommt! Glasklar und reichlich. Einige Bewohner holen Gläser und trinken, andere tragen Badewannen ins Freie. Die Kinder planschen und spritzen einander nass. Die Erwachsenen lassen sich anstecken. Bald tobt in Chungungo eine Wasserschlacht. „Wir waren alle völlig überdreht“, erinnert sich die Bewohnerin Daisy Sasmaya.
Zum ersten Mal wurden im Chungungo-Projekt über lange Zeit große Wassermengen aus Nebel gewonnen und nutzbar gemacht. Fünf Jahre hatten die Wissenschaftler zuvor auf dem Berg den Nebel und die beste Art, daraus Wasser zu schöpfen, ergründet. Das Resultat waren 75 Plastiknetze von je zwölf Meter Länge und vier Meter Höhe, rund 750 Meter über dem Meeresspiegel. Zwischen 10000 und 100000 Liter Wasser flossen je nach Nebellage täglich über eine Pipeline in den Ort. Paradiesische Zustände kehrten dadurch zwar nicht ein, aber immerhin 35 Liter und mehr konnte jeder Einwohner seither am Tag verbrauchen. 65000 Dollar kostete die gesamte Nebelwasseranlage.
Der Dunst, der sich über Chungungo nur nachmittags lichtet, entsteht durch den Humboldtstrom. Über der kalten Meeresströmung kühlt sich die Luft ab. Da aber über dem Pazifik vor der nordchilenischen Küste ein stabiles Hochdruckgebiet herrscht, sitzt die kühle Luft unter warmen Luftmassen fest. Folglich kann sie nicht in Höhen aufsteigen, in denen es kalt genug für die Bildung von Regentropfen ist. Stattdessen formieren sich über dem küstennahen Strom nur kleine Nebeltropfen. Der Nebel wird von den wärmeren Landmassen angesogen. Weil die Nebeltropfen zu leicht sind, um zu Boden zu fallen, treiben sie weit ins Landesinnere. Dort verdunsten sie rasch wegen der höheren Temperaturen. An den Küsten Chiles und Perus regnet es darum sehr selten – die 3500 Kilometer lange Atacama-Küstenwüste ist so entstanden.
Die Netze bieten den leichten Nebeltropfen ein Hindernis, an dem sie kondensieren können. Auf den Maschen sammeln sie sich und fließen in die Rohre an der unteren Netzkante und von dort in die Pipeline. „Nebelwasser hat die Qualität eines guten stillen Mineralwassers“, sagt der kanadische Physiker Robert Schemenauer, Leiter des Chungungo-Projekts. Es schmeckt auch nicht salzig, denn bei der Bildung der Tropfen wird der Salzgehalt gemindert. Nebel funktioniert wie eine große Gratis-Entsalzungsanlage.
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Katharina Kramer ist freie Autorin in Hamburg und spezialisiert auf Themen im Grenzbereich von Wissenschaft und Feuilleton. In mare No.44 schrieb sie über eine sprechende Robbe.
Der Berner Martin Arnold, geboren 1962, kostete die „trinkbare Luft“. Sein Urteil: „Es schmeckt so frisch wie aus einem Schweizer Bergquell.“ Heute soll das Wasser kommen.
Vita | Katharina Kramer ist freie Autorin in Hamburg und spezialisiert auf Themen im Grenzbereich von Wissenschaft und Feuilleton. In mare No.44 schrieb sie über eine sprechende Robbe.
Der Berner Martin Arnold, geboren 1962, kostete die „trinkbare Luft“. Sein Urteil: „Es schmeckt so frisch wie aus einem Schweizer Bergquell.“ Heute soll das Wasser kommen. |
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Person | Von Katharina Kramer und Martin Arnold |
Vita | Katharina Kramer ist freie Autorin in Hamburg und spezialisiert auf Themen im Grenzbereich von Wissenschaft und Feuilleton. In mare No.44 schrieb sie über eine sprechende Robbe.
Der Berner Martin Arnold, geboren 1962, kostete die „trinkbare Luft“. Sein Urteil: „Es schmeckt so frisch wie aus einem Schweizer Bergquell.“ Heute soll das Wasser kommen. |
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