Nach der Katastrophe

Der Künstler Thomas Wrede baut in akribischer Arbeit im Wattenmeer Miniaturen von tsunamiüberschwemmten Dörfern, die er auf großformatigen Fotografien verewigt

Kein Wind weht mehr, keine Welle bricht sich am Ufer. In der Stille danach offenbart sich für Thomas Wrede die Schönheit und die Grausamkeit einer Naturkatastrophe. Verebbt ist die Sturmflut, die ihren Schrecken über die Küstengemeinde gebracht hat. Lediglich einzelne Häuser ragen noch aus dem Dreck und Schlamm, seltsam verschoben von ihrem früheren Ort. Zwischen ihnen und um sie herum stapeln sich Tausende Balken zu bizarren Mustern.

Seit Stunden liegt der Fotograf Wrede auf einer trockenen Sandbank im Watt vor Sankt Peter-Ording. Hin und wieder stemmt er seinen Oberkörper empor, schaut durch seine altertümliche Plattenkamera auf das Chaos am Rand des Priels vor sich: Er hat eine Szene nach einer Sturmflut nachgestellt. Eine kunstvoll arrangierte Miniatur mit streichholzlangen Balken und Häusern, die eigentlich in die Welt der Modelleisenbahnen gehören.

So oft reckt sich Wrede an diesem Augusttag auf, dass sein Rücken zu schmerzen beginnt. Er hält jedes Mal inne, blickt 20, 30 Sekunden lang durch die Linse. Unentwegt, gebannt, angespannt. Oft kurz davor, auf den Auslöser zu drücken. Aber immer entdeckt er irgendein Detail, das ihm missfällt. Dann steht er auf, macht einen kurzen Schritt, greift wie Gulliver eines der Spielzeughäuser und verdreht es um Millimeter, sodass die Schatten an einer Stelle der Szene um Nuancen anders fallen.

Solche Winzigkeiten sind entscheidend. Denn später, wenn das Foto in einer Ausstellung hängen wird, 1,40 mal 1,80 Meter groß, mit einer für das menschliche Auge unerreichbaren Schärfe, dann soll selbst ein geübter Betrachter nicht gleich erkennen, um was es hier geht: um nichts anderes nämlich als eine Vortäuschung von Wirklichkeit, einer Szene, die es so nur als inszenierte Miniatur gab.

Unmengen von Fotos sehen wir jeden Tag, im Fernsehen, in Zeitungen und Illustrierten. Wir alle haben Bilder vor Augen von Orten, die von einer Naturgewalt heimgesucht wurden. Von einem Tsunami, einer Sturmflut, einem Hurrikan. Irgendwann ist Wrede aufgefallen, dass sich die Katastrophenfotos auf seltsame Weise ähneln, ganz gleich, ob sie in Aceh, Phuket oder New Orleans aufgenommen wurden. Oft hat er sich gefragt, ob sich nicht eine eigene Ästhetik durchgesetzt hat. „Die Bilder sind jedes Mal schrecklich und schön“, sagt er, „dramatisch und wie aus einer anderen Welt.“

Doch die Fotos erschrecken uns immer weniger. Je öfter wir solche Bilder betrachten, desto weniger fremd erscheinen sie uns. Der Moment des Unwirklichen verflüchtigt sich. Um unser Sehen herauszufordern, das ist Wredes Absicht, bedarf es einer perfekt inszenierten Katastrophe.

Mehr als ein Jahr lang hat Thomas Wrede die Szene im Watt vorbereitet. An einem großen Zyklus seiner Katastrophenbilder arbeitet er jedoch schon seit sechs Jahren. Noch vor dem Tsunami 2004 reißt er die ersten Fotos von Naturkatastrophen aus Zeitungen aus. Er legt eine Mappe an, dann noch eine zweite. In seinem Atelier in Münster legt er die Ausrisse auf dem Boden aus, vergleicht die Bilder miteinander und sucht nach Gesetzmäßigkeiten der Verheerung. Denn eine Katastrophe, so entdeckt er bald, hinterlässt nicht pures Chaos. Es reiche ja auch nicht einfach aus, Miniaturhäuser und Streichhölzer zu greifen, in die Luft zu werfen und fertig sei eine wunderbare chaotische Szene.

Wrede hat Bildende Kunst in Münster studiert. Und so nimmt er seinen Skizzenblock, fertigt Zeichnungen an, schiebt auf dem Papier die Häuser in immer neuen Variationen hin und her, bis ihm eine Szene mit rund 40 bis 50 Häusern zusagt. Wie ein Daumenkino lässt sich sein Block heute durchblättern.

Dann lässt er alle Pläne, alle Ideen ruhen, tagelang, wochenlang. Zu viele heikle Fragen sind offen: Soll es ein farbiges oder schwarz-weißes Foto werden? Oder auch: Wo am Himmel soll die Sonne stehen, wenn er das Bild aufnimmt? Denn je nach Sonnenstand und Jahreszeit wirkt ihr Licht anders.

Wrede widmet sich derweil anderen Projekten, idyllischeren, malerischen. Im Internet bestellt er eine Miniaturachterbahn, auf der der Schriftzug „Wilde Maus“ prangt. Er postiert sie an einem Nordseestrand und fotografiert sie in der Dämmerung, in der blauen Stunde, in der sich der Himmel vom Hellblau ins kühle Nachtblau färbt. Es werden elegische Aufnahmen vor einem leuchtenden Abendhimmel. „Vielleicht musste ich erst ein Foto mit heilen Häusern machen, bevor ich mich der Katastrophe widmen konnte“, sagt Wrede.


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mare No. 96

No. 96Februar / März 2013

Von Dirk Liesemer

In mare No. 88 schrieb Dirk Liesemer, Jahrgang 1977, über den Aktionskünstler Ruppe Koselleck. Während der Recherchen lernte er Wrede, geboren 1963 in Letmathe, Westfalen, kennen. Beide Künstler hatten damals ihre Ateliers in einem Speicher des Münsteraner Stadthafens. Wredes Arbeiten sind im Frühjahr in mehreren Orten zu sehen: vom 22. März bis 24. Juni im Haus Beda in Bitburg, vom 26. April bis 31. August in der Hauptausstellung des Europäischen Monats der Fotografie distURBANces im Musée national d’histoire et d’art in Luxemburg und vom 26. April bis 1. Juni in einer Einzelausstellung der Galerie Wagner + Partner in Berlin, in der auch das Bild Nach der Flut zu sehen sein wird.

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Vita In mare No. 88 schrieb Dirk Liesemer, Jahrgang 1977, über den Aktionskünstler Ruppe Koselleck. Während der Recherchen lernte er Wrede, geboren 1963 in Letmathe, Westfalen, kennen. Beide Künstler hatten damals ihre Ateliers in einem Speicher des Münsteraner Stadthafens. Wredes Arbeiten sind im Frühjahr in mehreren Orten zu sehen: vom 22. März bis 24. Juni im Haus Beda in Bitburg, vom 26. April bis 31. August in der Hauptausstellung des Europäischen Monats der Fotografie distURBANces im Musée national d’histoire et d’art in Luxemburg und vom 26. April bis 1. Juni in einer Einzelausstellung der Galerie Wagner + Partner in Berlin, in der auch das Bild Nach der Flut zu sehen sein wird.
Person Von Dirk Liesemer
Vita In mare No. 88 schrieb Dirk Liesemer, Jahrgang 1977, über den Aktionskünstler Ruppe Koselleck. Während der Recherchen lernte er Wrede, geboren 1963 in Letmathe, Westfalen, kennen. Beide Künstler hatten damals ihre Ateliers in einem Speicher des Münsteraner Stadthafens. Wredes Arbeiten sind im Frühjahr in mehreren Orten zu sehen: vom 22. März bis 24. Juni im Haus Beda in Bitburg, vom 26. April bis 31. August in der Hauptausstellung des Europäischen Monats der Fotografie distURBANces im Musée national d’histoire et d’art in Luxemburg und vom 26. April bis 1. Juni in einer Einzelausstellung der Galerie Wagner + Partner in Berlin, in der auch das Bild Nach der Flut zu sehen sein wird.
Person Von Dirk Liesemer