Möwen, Menschen und Manien

Einer will sie zählen, der andere vermehren, die Dritte will sie loswerden. Drei Menschen, die nur ihren Vogel im Kopf haben

Zielobjekt AH 80

Text: Olaf Kanter, Foto: Mathias Bothor

Dass Volker Dierschke jeden Flügelschlag dieser Möwe kennt, wäre zu viel gesagt, aber auch nicht schlimm übertrieben. Die Observierung beginnt im Sommer 2000 auf der Düne, der Helgoland vorgelagerten Sandinsel. Dierschke sucht nach Küken, die er mit einer Markierung versehen kann. Früher knipsten die Ornithologen den Vögeln Ringe aus Metall ans Bein, die sie erst dann wiedersehen sollten, wenn der Vogel tot gefunden wurde. Heute nehmen die Wissenschaftler bunte Plastikschilder, die man auch aus großer Entfernung ablesen kann. Der Biologe hat das Plättchen zu Hause erwärmt und um einen Kochlöffel gewickelt, damit es die Form einer Hülse bekommt. Sie ist dreieinhalb Zentimeter lang und grün, die Prägung in weißer Schrift: AH80. Im Markierungssystem der Forscher steht Grün für Deutschland.

Genau vor Dierschkes Füßen steckt ein Küken seinen Kopf in den Sand. Ich sehe nichts, was du nicht siehst, die Straußentaktik. Der Biologe greift entschlossen und doch vorsichtig zu, das kleine Wesen besteht fast nur aus Federn. Dierschke biegt seine Plastikhülse auf, schiebt sie über das Bein und lässt sie zuschnappen, fertig. Jetzt hat die Silbermöwe ihren Namen. AH – Antje oder Anton Helgoland? Das kann auch ein Biologe nicht mit bloßem Auge erkennen. Später, wenn AH80 mit einem Partner gesichtet wird, wissen wir mehr: Das Männchen ist größer.

Dierschke wird jetzt vom Jäger zum Sammler, Datensammler. Denn mit dem Tag der Beringung läuft die Überwachung an; der Biologe hat ein Heer von inoffiziellen Mitarbeitern, die nach AH80 Ausschau halten. Enthusiasten, die jede freie Minute mit dem Feldstecher auf der Lauer liegen, Hundertschaften, die jede gesichtete Markierung an die Vogelwarte durchgeben. Birder nennt man solche Hobbyornithologen in England und auch bei uns; die deutsche Übersetzung Vögler hat sich nicht durchgesetzt. AH80 jedenfalls gerät mit schöner Regelmäßigkeit ins Blickfeld, im Sommer meist über der Nordsee:

25.09.01 Helgoland, T. Brandt
10.09.02 Westerland, Sylt, K. Goslar
14.09.03 Strand Westerland, C. Hamann
21.09.04 Strand Wenningstedt, J. Sprengel
04.06.05 Helgoland: Düne, M. Gottschling

Ja und?, mag jetzt der eine oder die andere denken, deshalb sei kurz an die Nadel im Heuhaufen erinnert. Wie viele Möwen leben an den deutschen Küsten? Es sind wirklich sehr viele. Doch dann steht da T. Brandt am Strand und erspäht ausgerechnet Dierschkes Vogel. Zufall oder unerschöpfliche Geduld der Beobachter?

Leichter ist die Angelegenheit allemal im Winter, da zieht es AH80 in den Süden, der für Silbermöwen interessanterweise im Rheinland beginnt. Weiter als bis zur französischen Kanalküste kommen die Vögel allerdings nie, und im Osten geht es nicht über Hannover hinaus.

17.11.01 Baggersee Graverdyk, B. Steffen
01.02.02 Deponie Hannover, K. Thye
21.02.03 Deponie Oldenburg, M. Gottschling
23.02.04 Rieselfelder, Münster, J.O. Kriegs

Wieso es im Winter leichter ist, Möwen zu beobachten? Ein Strand ist lang, eine Mülldeponie vergleichsweise übersichtlich – und Volker Dierschke weiß von Birdern zu berichten, die sich im Müll eingraben, um den Vögeln ganz nahe zu kommen. J.O. Kriegs gelingt es schließlich sogar, ein Foto von AH80 zu schießen. Das Federkleid windzerzaust, skeptischer Blick über die Schulter, am rechten Bein die deutschgrüne Markierung, AH80.

Fragt sich, warum eine Möwe überhaupt wandert, denn zu den Zugvögeln zählt sie eigentlich nicht. Volker Dierschke interpretiert die Ausflüge als „jugendliche Wanderlust“. AH80 guckt sich eben ein bisschen um. Bei einem Flugtempo von 40 Kilometern pro Stunde sind Abstecher zum Festland ja keine große Sache.

Den Biologen interessieren dabei vor allem zwei Problemfelder: Wie treu ist eine Möwe, wenn es ans Brüten geht – kehrt sie an ihren Geburtsort zurück? Es sieht so aus. Im Juni 2004 meldet M. Gottschling: Helgoland, Düne Nord, verpaart. In der Geschlechterfrage leider wieder nichts Neues. Dann im Mai dieses Jahres, Dierschke sieht es mit eigenen Augen: Helgoland, Düne Mitte, in Kolonie.

Frage zwei, eine Problematik mit umweltpolitischem Hintergrund, wird sich erst in diesem Winter abschließend klären lassen: Was stellen die Möwen an, wenn auch die letzte Deponie keinen Frischmüll mehr annimmt, wie es der Gesetzgeber seit dem 1. Juli 2005 vorschreibt? Volker Dierschke wird erfahren, wie AH80 die Sache sieht. Wenn es gut läuft, bleibt er die nächsten 20 Jahre auf dem Laufenden, so hoch ist die Lebenserwartung von Larus argentatus. Erst wenn Dierschke nichts mehr hört, wenn das Heer seiner Beobachter schweigt, wird er seine Excel-Tabelle schließen. AH80 hatte einen Bruder, Schrägstrich, eine Schwester: AH82. Ein Ausflug nach Büsum, so viel kann Dierschke rekonstruieren, dann wurde die Möwe nie wieder gesehen. AH82 flog nur einen Sommer.


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mare No. 53

No. 53Dezember 2005 / Januar 2006

Von M. Bothor, M. Brandenburg, O. Kanter und S. Schulz

Mathias Bothor, 1962 in Berlin geboren, machte sich 1992 als freier Fotograf selbstständig. Heute ist er einer der gefragtesten Porträtfotografen; seine Arbeiten wurden bereits mehrfach ausgestellt. Mathias Bothor lebt mit seiner Familie in Berlin und arbeitet überall.

Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen.

Olaf Kanter, geboren 1962, hat Anglistik und Geschichte studiert. Bei der Zeitschrift mare betreute er bis Ende 2007 die Ressorts Wissenschaft und Wirtschaft. Seit 2008 ist er Textchef im Ressort Politik bei Spiegel Online. Er lebt in Hamburg.

Sandra Schulz, Jahrgang 1975, aufgewachsen in China, studierte Politikwissenschaft in Freiburg und Berlin und berichtete als freie Journalistin aus Japan. Ausbildung an der Berliner Journalistenschule, danach Redakteurin bei mare. Seit 2008 ist sie Spiegel-Redakteurin und berichtete mehrere Jahre aus Asien. Ausgezeichnet wurde sie unter anderem mit dem Helmut-Stegmann-Preis und dem Axel-Springer-Preis.

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Vita Mathias Bothor, 1962 in Berlin geboren, machte sich 1992 als freier Fotograf selbstständig. Heute ist er einer der gefragtesten Porträtfotografen; seine Arbeiten wurden bereits mehrfach ausgestellt. Mathias Bothor lebt mit seiner Familie in Berlin und arbeitet überall.

Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen.

Olaf Kanter, geboren 1962, hat Anglistik und Geschichte studiert. Bei der Zeitschrift mare betreute er bis Ende 2007 die Ressorts Wissenschaft und Wirtschaft. Seit 2008 ist er Textchef im Ressort Politik bei Spiegel Online. Er lebt in Hamburg.

Sandra Schulz, Jahrgang 1975, aufgewachsen in China, studierte Politikwissenschaft in Freiburg und Berlin und berichtete als freie Journalistin aus Japan. Ausbildung an der Berliner Journalistenschule, danach Redakteurin bei mare. Seit 2008 ist sie Spiegel-Redakteurin und berichtete mehrere Jahre aus Asien. Ausgezeichnet wurde sie unter anderem mit dem Helmut-Stegmann-Preis und dem Axel-Springer-Preis.
Person Von M. Bothor, M. Brandenburg, O. Kanter und S. Schulz
Vita Mathias Bothor, 1962 in Berlin geboren, machte sich 1992 als freier Fotograf selbstständig. Heute ist er einer der gefragtesten Porträtfotografen; seine Arbeiten wurden bereits mehrfach ausgestellt. Mathias Bothor lebt mit seiner Familie in Berlin und arbeitet überall.

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Person Von M. Bothor, M. Brandenburg, O. Kanter und S. Schulz