Meine wilden Jahre

Wunderbare Hallig Hooge. Ein mare-Redakteur verlebte hier die schönsten Wochen seiner Jugend, aus Gründen

Es gab Zeiten in meinem Leben, da war ich 51 Wochen im Jahr der Verlierer. Und eine Woche ein König. Der König von Hooge.

Warum das so war? Es hat mit zwei Dingen zu tun. Erstens mit Hooge selbst, jener zweitgrößten deutschen Hallig, auf der, abseits vom Rest unseres Landes und von der Nordsee umspült, gerade einmal 105 Menschen wohnen. Und zweitens mit mir. Oder besser gesagt: damit, wie die Menschen mich wahrnahmen.

Fangen wir mit mir an. Als ich mit zehn Jahren aufs Gymnasium in Köln kam, war ich einen Kopf kleiner als andere Jungs in meiner Klasse. Ich sprach leise, ich prügelte mich nicht, ich riss keine Dumme-Jungen-Sprüche, ich war schlecht in Sport, weil meine Beine so kurz waren, ich hatte Schlitzaugen und (später, mit zwölf oder 13) Pickel im Gesicht, die ich mit meinem Ponyschnitt zu verdecken versuchte, zumindest die Riesenpusteln auf der Stirn. Ich war Klassenbester, ohne dafür etwas zu tun. Ich aß Sushi in der Pause, weil meine japanische Mutter es gut mit mir meinte. Und ich hatte immer genug Geld dabei (weil ich als Einziger in meiner Klasse 15 Kilometer weit weg wohnte und meine voll berufstätigen Eltern sichergehen wollten, dass ich es nachmittags nach Hause schaffe, zur Not mit dem Taxi).

Ich war also ein schüchterner halb japanischer Junge aus gutem Haus. Für die Jungs in meiner Klasse aber war ich ein Langweiler. Ein stiller, pickliger Streber, und Snob noch dazu. Mit mir sprachen sie nur, wenn es darum ging, Hausaufgaben abzuschreiben. Oder Geld für den Süßigkeitenautomaten zu schnorren.

Und weil die Jungs mich so sahen, sahen mich die Mädchen genauso. Nie wurde ich auf deren Geburtstagspartys eingeladen, nie durfte ich mit einem Mädchen aus meiner Klasse knutschen, keines wollte mich als Partner in der benachbarten Tanzschule. Es waren harte Jahre. Die härtesten meines Lebens.

Aber sie wären noch viel härter geworden, wenn es nicht Hooge gegeben hätte.
Das kam so: Ich ging nicht nur in jenes Gymnasium in Köln, sondern auch in die Musikschule des Vororts, in dem ich lebte. Schon bald stellte sich heraus, dass ich talentiert war. Ich lernte Klavier, Geige, Saxofon und Schlagzeug. Die Lehrer waren begeistert. Und ich war es auch. Ich triumphierte innerlich. Der Erfolg in der Musik gab mir die Kraft, die Erniedrigungen in der Schule durchzustehen. Es war, als führte ich ein Doppelleben. Vormittags die Folter im Gymnasium, nachmittags die Genugtuung am Instrument.

Eines Tages erfuhr ich, dass meine Musikschule jedes Jahr eine Ferienfreizeit veranstaltete. Immer im Herbst. Und immer nach Hallig Hooge. Ich meldete mich an.

Zusammen mit 50 bis 60 Kindern und Jugendlichen und vielleicht 15 Dozenten fuhr ich also los, im Herbst 1982, zum ersten Mal in den hohen Norden, mit dem Zug, dem Bus und der gecharterten Fähre ab Schlüttsiel. Ein Abenteuer. Seltsamerweise fand ich schon auf der Hinfahrt neue Freunde. Warum? Weil ich hier ein unbeschriebenes Blatt war. Kein Streber, kein Snob. Sondern einfach ich. Der Halbjapaner, der vier Instrumente spielt. Mein bester Freund wurde Stefan, ein gleichaltriger Junge aus demselben Vorort, auch er spielte mehrere Instrumente.

Als ich Hooge zum ersten Mal sah, staunte ich. Ein baumloses Stückchen Erde mitten im Meer. Grün behaart und platt wie ein Blatt Papier. Nur die Warften, jene künstlich aufgeschütteten Anhöhen, auf denen ein paar Häuser stehen, lugten empor und sahen aus der Ferne aus wie Maulwurfshügel. Hooge war das Gegenteil von dem, was ich aus Köln kannte. Grasende Kühe, sich durch Wiesen schlängelnde Priele und hinter dem Deich das Meer, das sich bei Ebbe zurückzog und eine Schlicklandschaft freigab, das Watt.

Die unberührte, windumtoste Natur gefiel mir. Doch sie war nicht der Grund, weswegen ich hier war. Ich war zehn und wollte das machen, womit ich glänzen konnte: Musik. Den ganzen Tag. Und das taten wir dann auch. Wir wohnten im Jugendhaus auf der Backenswarft, unweit des Anlegers, an dem unsere Fähre festgemacht hatte. Das Haus verwandelten wir in eine Art Musikakademie. In jedem Raum wurde musiziert. Zusammen mit meinem neuen Freund Stefan ging ich in die Folkloregruppe, in der wir beide Geige spielten. Die anderen verteilten sich auf Akkordeonorchester, Chor, Big Band, Streichquartett und was es sonst noch so gab. 


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 122. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 122

No. 122Juni / Juli 2017

Von Jan Keith

Jan Keith, Jahrgang 1971, mare-Redakteur, war seit seiner letzten Musikschulfahrt vor 28 Jahren nicht mehr auf Hooge. Er hat sich vorgenommen, das zu ändern.

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Vita Jan Keith, Jahrgang 1971, mare-Redakteur, war seit seiner letzten Musikschulfahrt vor 28 Jahren nicht mehr auf Hooge. Er hat sich vorgenommen, das zu ändern.
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