Mein Hooge, 7.

Unser Kolumnist reiste als Jugendlicher achtmal nach Hooge. Jetzt, nach 30 Jahren, erkundet er die Hallig erneut, als Erwachsener, als Stadtmensch, mit tausend Fragen im Gepäck. Heute besucht er die einzige Schule

Auf der Hallig Hooge leben zwölf schulpflichtige Kinder. Sie heißen Ronja, Ulrike, Justin, Fynn, Nosani, Elahe, Ella, Ilham, Noah, Miriam, Mohammed und Marie. Sie gehen auf die einzige Schule der Hallig, auf der Ockelützwarft.

Neulich habe ich diese Schule besucht, eine Grund- und Hauptschule. Sie befindet sich in einem Rotklinkergebäude am Aufgang zur Warft. Es gibt einen einzigen Klassenraum. Und eine einzige Lehrerin, Manuela Warda, Jahrgang 1975.

Seitdem ich sie im Unterricht beobachtet habe, weiß ich, dass Halliglehrer ähnliche Fähigkeiten mitbringen müssen wie Verkehrspiloten beim Landeanflug im Sturm. Geschüttelt von Gewitterwolken und Winden, behalten sie viele Dinge gleichzeitig im Blick: Höhe, Geschwindigkeit, Kurs und die eigenen Nerven.

Manuela Warda beherrscht das Multitasking perfekt. Denn in ihrem Klassenraum sitzen sie alle zusammen: drei Erstklässler, zwei Zweitklässler, ein Drittklässler, ein Viertklässler, ein Fünftklässler, ein Sechstklässler, zwei Achtklässler, ein Neuntklässler. (Eine siebte Klasse gibt es derzeit nicht.) Während in Hamburg-Eppendorf der jahrgangsübergreifende Unterricht als neuester pädagogischer Wurf gefeiert wird, abgekupfert von den Skandinaviern, gibt es ihn auf Hallig Hooge schon immer.

Der Trick ist nun folgender: Manuela Warda nimmt sich innerhalb einer Unterrichtsstunde fünf oder zehn Minuten, um mit einer Klasse neuen Stoff durchzunehmen. In dieser Zeit arbeiten die anderen Schüler still, manche mit Kopfhörern. Dann wird gewechselt. Bis jede Klasse mal dran ist mit aktivem Unterricht.

Ich habe es selbst erlebt, wie sie blitzschnell umschaltet, zwischen Erstklässler und Teenager, zwischen ABC-Üben und – sagen wir – Goethes „Faust“. Ihre Schüler sind sechs bis 15 Jahre alt, darunter vier Flüchtlingskinder aus Afghanistan und die eigene Tochter. Da ist jeder Schultag ein stürmischer Landeanflug. „Diese Bandbreite macht es anstrengend. Aber es funktioniert“, sagt sie.

Erich Kästner schrieb einmal: „Echte, berufene, geborene Lehrer sind fast so selten wie Helden und Heilige.“ Manuela Warda ist so ein seltenes Exemplar. Eins mit großem Herz und großem Gehirn.

Noch vor Kurzem herrschte an der Halligschule Chaos. Lehrerinnen kamen und gingen, es waren drei in vier Jahren. Die eine wollte nach zwei Jahren wieder weg, die zweite fiel nach einem Unfall lange aus, mit der dritten stritten sich die Eltern, woraufhin diese sich krankmeldete. „Es gab wochenweise keine Schule“, erzählt Sandra Wendt, damalige Elternsprecherin. Später übernahmen pendelnde Ersatzpädagogen den Unterricht, an zwei oder drei Tagen in der Woche.

Die Hooger Eltern liefen Sturm. Es gab wütende Anrufe beim Husumer Schulamt. Ein Elternpaar war so verzweifelt, dass es die Sache selbst in die Hand nahm: Auf Facebook rief es Pädagogen dazu auf, sich auf die vakante Lehrerstelle auf Hooge zu bewerben. Das Problem: Es gab gar keine freie Lehrerstelle. Die aktuelle Lehrerin war ja nur krankgeschrieben. Ein interessanter Fall von Selbstjustiz.

Vorbei. Seit Manuela Warda zu Beginn des Schuljahrs von Niedersachsen nach Hooge wechselte, weicht der Frust einer neuen Euphorie. Sie will den Halligschülern Plattdeutsch näherbringen, mit ihnen ins Watt gehen, und sie hat für jedes Kind eine „Land unter“-Mappe zusammengestellt, Lernblätter für Zuhause, wenn die Nordsee über den Deich tritt. „Mir scheint, dass sie richtig Lust darauf hat, hier zu sein“, sagt Sandra Wendt. Hooges Bürgermeisterin Katja Just ergänzt: „Ich bin ganz angetan und ganz begeistert.“

Sogar das Schulamt zeigte sich spendabel und stockte die Lehrerstelle auf eineinhalb auf. Seitdem kommt an zwei Tagen ein zweiter Lehrer nach Hooge, der die Fächer unterrichtet, die Manuela Warda nicht so liegen, Naturwissenschaften etwa oder Weltkunde. Den Rest übernimmt sie selbst: Mathematik, Deutsch, Religion, Sport, Kunst, Englisch, Musik.

Nur eine Sache frage ich mich: Wie ist es eigentlich, die eigene Tochter zu unterrichten? Ella, acht Jahre alt, dritte Klasse. Ist nicht die Versuchung zu groß, das eigene Kind zu bevorzugen?

Manuela Warda hält kurz inne, lächelt. Dann sagt sie: „Wissen Sie, es sind so wenige in der Klasse, da sind nach und nach alle Kinder so wie die eigenen.“

Erich Kästner wäre bestimmt begeistert.

mare No. 137

No. 137Dezember 2019 / Januar 2020

Von Jan Keith

Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.

Mehr Informationen
Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
Person Von Jan Keith
Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
Person Von Jan Keith