Mauersegler

Die einen bauen eine Mauer, die anderen eine Yacht. Mit der „Berliner Bär“ dürfen sechs DDR-Segler 1965 tatsächlich bis ins Mittelmeer – allerdings ist die Stasi mit von der Partie

„5. Oktober 1965. Nachmittags machen Harald und ich einen Besuch im Yachtclub von Ramsgate. Am Mast vor dem Club flattert die deutsche Fahne. Wir sagen, dass für unser Land in der Flagge etwas fehlt: das Emblem. Die Gäste und der Steward sind bass erstaunt. Niemals hatten sie Gelegenheit, mit Menschen von jenseits der Mauer zu sprechen. Ihre Fragen sind dieselben wie neulich in Rendsburg: Haben Sie genügend zu essen? Weshalb bleiben Sie nicht hier?“

Weil wir ins Mittelmeer wollen, denkt Karl Behrend, als er nachts in sein Bordtagebuch schreibt. Die „Berliner Bär“ mit der DDR-Fahne am Heck pflügt durch die Wellen im Ärmelkanal. Zwei Mann schieben draußen Wache, die anderen liegen in den schmalen Kojen. Wenige Quadratmeter misst der Lebensraum der Mannschaft. Hier wird zu sechst gekocht, geflucht, geschlafen und seit den Kiosken am Nord-Ostsee-Kanal nur noch Pall Mall geraucht statt Karo. Am 19. September 1965 ist die „Berliner Bär“ mit Pauken und Trompeten von Stralsund losgesegelt. Bei frischem Wind und herbstlichem Wetter verließ die zweimastige, grau-weiß gestrichene Segelyacht für acht Monate die DDR. Das eisblaue Vorpostenboot der Volksmarine, vor der Ostseeküste kreuzend, gab freie Fahrt.

18 Tage später an der französischen Westküste, Höhe Oléron. Norddeich Radio redet vom heißesten Oktobertag seit über 20 Jahren. Harald Dorau setzt beide Spinnaker, 200 Quadratmeter Segelfläche. Fritz Schröder, der Smut, serviert mittags Wurst und Gurke mit Pfeffer in Remouladensoße und dazu launige Geschichten von seinem eigentlichen Job als Reporter beim „Neuen Deutschland“: mal Tierpark, mal Weiße Flotte, mal Kosmonautenbesuch in der Hauptstadt. „Volksreden“, winkt Karl Behrend ab und kurvt nach dem Essen mit dem Dingi um die Segelyacht. Dem Fernsehen der DDR soll er viele Bilder von der Reise drehen, da sind ihm die zwei bunten Ballonsegel als Motiv willkommen. Auch andere finden dieses heitere Bild des Seglers attraktiv.

„17:00 Uhr: Ein japanischer Tanker passiert uns aus Neugier viel zu nah. Als seine Bugwelle kommt und wir eindippen, zerreißt es den größeren Spinnaker! Was für ein Schaden!“

In der Biskaya gibt es Sturm. Angst bei jenen, die weiter als Rügen nie kamen. Nur Kapitän Jürgen Bürgin, Berufsschiffer, war schon im Atlantik und ist bedient, als er sieht, dass Fritz Schröder keinen Jacobs-Kaffee mehr machen kann, weil das Pulver zusammen mit Pfeifentabak im Bilgenwasser schwimmt. Aber die „Bär“ zieht sicher durch die hohe Dünung, und als Harald Dorau auch noch spitze Flossen im Wasser entdeckt – Delfine! –, feiert die Crew die Boten des Südens und den abgerittenen Orkan mit einem Extraschluck Schnaps der Marke „Edel“.

Gut drei Wochen nach Verlassen der DDR-Hoheitsgewässer läuft die „Berliner Bär“ in die Hafenbucht von Kap Finisterre, Spanien, an der Westspitze Europas ein. Es ist Sonntag. Auf dem Markt verkaufen schwarz gekleidete Frauen Fisch, in den Bodegas spielen Männer Domino. Überraschend ist die Einfachheit des Lebens hier, eine exotische Ärmlichkeit, die gar nicht passt zu dem Bild, das sich die Segler vom reichen Westen machten. Seit Reporter Fritz Schröder an die Kinder in den Gassen kleine Handspiegel verteilt, Werbegeschenke des DDR-Reisebüros, umringen kreischende Scharen die fremden Männer. Abends werden sie von Fischern zu Tintenfisch und Wein in eine Hafenkneipe eingeladen, und alle staunen, als bekannt wird, woher die Segler stammen: aus „Ulbricht-Alemania“. Ein Spanier, ehemals Gastarbeiter im Ruhrgebiet, spricht gut deutsch. Er fragt: „Wie kommt ihr zu uns – mit so einer Yacht?“
Die Männer stapeln Streichholzschachteln auf dem Tisch. „Hier ist die Mauer, und dahinter sind wir. Was willst du machen?“, sagt einer, und dann erzählen sie die ganze Geschichte.

Just im Sommer 1961 fangen im Südosten Berlins die Woltersdorfer Segler der Betriebssportgemeinschaft Chemie Erkner an zu spinnen. Ein eigene Segelyacht wollen sie bauen, eine große, mit der man auch einmal herauskommt. Und dann der 13. August! Sie machen weiter, trotzig. 35 Mann, unter ihnen Harald Dorau, gründen eine „Interessengemeinschaft Hochseekreuzer“, zahlen je 500 Ostmark in eine Gemeinschaftskasse. Ein befreundeter Schiffskonstrukteur zeichnet ihnen unter der Entwurfsnummer WS 06-02002(2) ein Schiff, „zugelassen für alle Meere nach den Bauvorschriften des Germanischen Lloyd“. Eine Blaupause, die ein Beschaffungsalbtraum ist, denn wo soll all der Stahl, das Kupfer, Messing, Aluminium und Mahagoni herkommen in einem Land, dessen Wirtschaft die des Mangels ist?

„Aber wir hatten ja Harald!“ Der grinst verlegen, und dann erzählen die Ostdeutschen, wie sie diese Yacht, gut 13 Meter lang, fast 15 Tonnen schwer, in jahrelanger Bauzeit tatsächlich fertigbekamen. Wie Harald Dorau, Windhund, Filou und Parteimitglied, organisierte, besorgte, ranholte. Wie er, der ausschließlich für Segelschiffe und Frauen brennt, Betriebsleiter und Sachbearbeiterinnen in der ganzen Republik beschwatzte und mit Schiffstahl, Spezialfarbe, Nirostabeschlägen an den Bauplatz zurückkehrte, wo das Traumschiff allmählich Form annimmt. Seit April 1963 schweißt die „Interessengemeinschaft“ unter Anleitung des gelernten Schiffbauers Walter Moritz Stahlbleche an die eingerichteten Spanten auf dem Woltersdorfer Clubgelände am Ufer des Flakensee. Und die Nachbarschaft flippt aus. Nicht nur wegen des dröhnenden Wochenendsounds, der Hammerschläge auf dickem Stahl, sondern auch wegen anderer Unannehmlichkeiten. Sobald die Männer den Schweißgenerator anwerfen, bricht regelmäßig das Stromnetz zusammen, und niemand kann mehr fernsehen, weder Ost noch West. Und dabei immer die bange Frage: Was, wenn sie uns nicht hinauslassen? Wenn die Endstation Müggelsee heißt? Denn weshalb soll „von oben“ eine private Segelreise – womöglich ins kapitalistische Ausland – genehmigt werden, wo „oben“ die DDR doch gerade erst dicht gemacht hat?

Harald Dorau zaubert seinen Bekannten Karl Behrend, einen „Reisekader“, hervor. Behrend hat ein Faible für Zoologie, Geschichte und fremde Länder. Ein bekennender Freigeist, der sich im Osten irgendwie einrichtet und es mit einer DDR-Expedition einst sogar bis nach Afrika schaffte. Dorau hofft, dass Behrend aus der Jungfernfahrt eine Art Kampagne, eine höhere Mission macht. Und tatsächlich schlägt Behrend eine „Expedition ins Mittelmeer“ vor – mit ihm als Chef. Den Schiffsnamen will er auch gleich ändern. Nicht gerade „Patriot“ soll die Yacht heißen. Das, meint er, klingt in fremden Häfen zu sehr nach Ostpropaganda. Wie wäre es dagegen mit „Berliner Bär“?


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mare No. 61

No. 61April / Mai 2007

Von Siegfried Ressel

Siegfried Ressel, Jahrgang 1958, lebt als freier Autor in Frankreich. Geboren in Potsdam, hat er als jugendlicher Segler die Geschichte der „Berliner Bär“ im Fernsehen verfolgt. Jetzt hat er selbst einen Film über das Schiff gedreht, den der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) am 9. April um 22 Uhr zeigt.

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Vita Siegfried Ressel, Jahrgang 1958, lebt als freier Autor in Frankreich. Geboren in Potsdam, hat er als jugendlicher Segler die Geschichte der „Berliner Bär“ im Fernsehen verfolgt. Jetzt hat er selbst einen Film über das Schiff gedreht, den der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) am 9. April um 22 Uhr zeigt.
Person Von Siegfried Ressel
Vita Siegfried Ressel, Jahrgang 1958, lebt als freier Autor in Frankreich. Geboren in Potsdam, hat er als jugendlicher Segler die Geschichte der „Berliner Bär“ im Fernsehen verfolgt. Jetzt hat er selbst einen Film über das Schiff gedreht, den der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) am 9. April um 22 Uhr zeigt.
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