Matjes und Mehr

Im niederländischen Lauwersoog, am Ende der begehbaren Welt, steht ein Restaurant. Dessen Name ist Program: „Visser Vis“

Waddenzee sieht heute grau aus und gar nicht trocken. Waddenzee ist das holländische Wort für Watt. Auf seinem glatten Grund haben sich zwei Meter hohe Wellenberge aus düsterem Nordseewasser aufgetürmt, mit messerscharfen langen Gischtkämmen tobt die See bis an die Außenmole. Wer sich hier unterhalten will, muss brüllen.

Aber hier will sich keiner unterhalten. Die Mole, die Hafenanlagen, die Piers zwischen Hunderten von Kuttern und Trawlern sind menschenleer. Bei beißendem Nordwind und Nadelregen gehen nicht mal deutsche Touristen an die Luft. Dabei haben die sonst in Lauwersoog den kernigsten Ruf. „Sie meckern nicht, wenn das Wetter schlecht ist“, sagt Jan Rigtering, „sie ertragen es.“

Rigtering ist einer der beiden Geschäftsführer von „Visser Vis“, einem kulinarischen Außenposten am Ende der begehbaren Welt. „Visser Vis“, was nichts anderes heißt als „Frischer Fisch“, wobei es sich bei „Visser“ um einen Eigennamen handelt, liegt am äußersten Rand eines Hafenbeckens mit direktem Nordseeanschluss. Wer hier die Matjesheringe mit zuviel Bier herunterspült, muss aufpassen, dass er nicht nach dem Gastmahl des Meeres in Waddenzee landet oder im sieben Meter tiefen Hafenbecken der riesigen Fischereiflotte.

Zugegeben, schön ist es nicht bei „Visser Vis“. Jedenfalls nicht schön im konventionellen Sinne. Es ist sauber und bestimmt sehr praktisch. So sauber, dass der kleine Restaurantprospekt sogar die blitzsauberen Toiletten abbildet, adrett gekachelt und mit meergrünen Handtüchern beflaggt. „Sauberkeit ist wichtig rund um Vis“, sagt Jeike Kloosterhof, die Wirtin, Schwester des zweiten Geschäftsführers und Namensgebers von „Visser Vis“. „Nee, Frische ist das Wichtigste bei Vis“, sagt Jan Rigtering, der erste Geschäftsführer. Jedenfalls kommen die zappelfrischen Heringe, Kabeljaus, Schollen, Seezungen und auch die Krabben direkt von der Auktion in die Küche. Die Auktionshalle ist nur einen Flossenschlag entfernt. Die Inhaber von „Visser Vis“ betreiben selbst einen Fischgroßhandel und liefern an Restaurants und Fischgeschäfte in ganz Holland.

Der Weg nach Lauwersoog führt über kleine Straßen an der Küste entlang oder von Groningen aus querfeldein zum Wasser. Vom nördlichsten deutschen Grenzübergang Nieuweschans aus ist es mit dem Auto etwa eine Stunde Fahrzeit. Viele Besucher sind jedoch Sommersegler und Freizeitschiffer, und die nähern sich Lauwersoog auf dem Wasserweg über das Lauwersmeer, das die Holländer in den 70er Jahren in einen Deich eingepackt haben und das nun ein riesiger Binnensee geworden ist, mit vielen Nebenarmen, Buchten, einmündenden Kanälen und Flüssen.

„Visser Vis“ ist von außen als Restaurant kaum zu erkennen. Ein flaches graurotes Gebäude im Garagenstil der 70er Jahre, mitten zwischen Großhändlern, Fischverarbeitern, Fuhrunternehmen und Werftzulieferern. Der Gastraum ist groß, mit roten Fliesen ausgelegt, mit weißen und braunen Plastikstühlen und mit derben Kunststofftischen möbliert, so als fände hier im Licht der gleißenden Deckenstrahler eine tägliche Entkeimung statt. Von den Fenstertischen aus schweift der Blick über parkende Autos zum Hafenbecken.

Der Speiseplan ist ebenso knapp wie aufregend. Da sind zunächst einmal die Krabben. Die gibt es eigentlich überall an der Küste, aber eben nicht in dieser Qualität. Bei „Visser Vis“ sind die kleinen Nordseegarnelen tagesfrisch und werden noch von Hand gepult. Konservierungsstoffe kommen hier nicht in die Tüte. „Sonst smecken die nicht“, sagt Jeike Kloosterhof streng. Man isst sie pur oder mit etwas Mayonnaise. Fertig. Die deutschen Touristen mögen die Krabben am liebsten.

Denn bei den Heringen können sie meist körperlich nicht mithalten. Die Kunst, einen Hering zu essen, ist in Deutschland nicht verbreitet. Unsereins würde den kleinen Fisch wohlmöglich auf einen Teller legen und ihm mit Messer und Gabel zu Leibe rücken. Das ist aber falsch.

Was ein richtiger Holländer ist, der bestellt sich ein oder zwei Heringfilets auf einem Papptellerchen. Besteck und Serviette benötigt er nicht, denn die Schwanzflosse eines guten Herings ist so sauber und trocken wie frischgeplättetes Leinen, und mehr wird er nicht berühren. Er ergreift den Hering also beim Schwanz und hält ihn in die Höhe, um ihn kurz zu betrachten.

So frisch aus dem Salz sieht er schön aus, schuppenglänzend, mit intakter Flosse, die das Gewicht des Fisches mühelos trägt. Jetzt wirft der Esser seinen Kopf in den Nacken und peilt mit dem baumelnden Hering lotrecht über seinen Mund, den er weit öffnet. Langsam, aber beharrlich, wird nun der Hering herabgelassen, ein- oder zweimal abgebissen, geschluckt. Wer sehr pingelig ist, lässt die zarte Flosse übrig.

Am besten scheint dieser heikle Akt bei geschlossenen Augen zu gelingen. Man beginnt mit dem Training bereits in jungen Jahren. Da Matjes kaum Gräten enthält, gelten schon Kinderwageninsassen als heringstüchtig.

Und dann steht noch Backfisch auf dem Programm: Schollen, manchmal Seezungen und Kabeljau. Nichts Besonderes also. Denn nirgendwo anders ist es so verbreitet, Speisen knusprig auszubacken wie in Holland. Unser Nachbar zur Linken frittiert, was der Teig hält: Kartoffelpamps und Gemüsemasse, Fleischbrät und Fisch, Früchte wie Äpfel und Bananen, Trockenobst und Käsehappen. Aber warum? Kommt der Drang zur Hülle vom kühlen Klima? Ist es sozial, wenn alle Speisen uniform gewandet sind? Oder wollen Wirte nur das Vertrauen ihrer Gäste testen?

Bei „Visser Vis“ werden „Kibblinge“, kleine, frisch filetierte Häppchen von verschiedenen Meeresfischen, in einen Teig aus Mehl, Wasser und Kräutern getunkt und dann ausgebacken. Sie schmecken großartig. Was also ist das geheime Gewürz, das die Kibblinge hier so einzig-artig macht? Jeike Kloosterhof zuckt die Schultern. „Das ist nicht der Teig. Auf das Innere kommt es an.“


Visser Vis
Haven 22, Lauwersoog, Niederlande
Geöffnet: täglich 10–18 Uhr

mare No. 7

No. 7April / Mai 1998

Von Billy Starfish und Stefan Pielow

Text: Billy Starfish

Stefan Pielow, geboren 1961, ist im Münsterland aufgewachsen und ging nach dem Abitur als freier Fotoassistent nach Hamburg. Nach dreijähriger Praxis studierte er an der Folkwangschule Essen Fotografie. Während des Studiums produzierte er seine ersten Reportagen für den Stern und das ZEITmagazin. Später spezialisierte er sich immer mehr auf das inszenierte Portrait. Als freier Mitarbeiter beim Stern fotografierte er zahlreiche Lifestylethemen sowie Prominente im In- und Ausland. Stefan Pielow arbeitet heute als freier Fotograf für internationale Magazine, Firmen und Agenturen. Seit 2002 lebt Stefan Pielow mit seiner Frau und zwei Töchtern in Starnberg. 
Für mare reiste Pielow seit Mitte der 90er Jahre an besonders exotische Orte, von den Bahamas bis zum Nordkap. 2011 erschien der mare-Bildband NEW YORK, für den Pielow Bewohner der Stadt am Meer portraitierte. 2016 produzierte er zusammen mit dem mareverlag das Buch: MEIN SCHIFF ENTSTEHT für die TUI Cruises GmbH.

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Vita Text: Billy Starfish

Stefan Pielow, geboren 1961, ist im Münsterland aufgewachsen und ging nach dem Abitur als freier Fotoassistent nach Hamburg. Nach dreijähriger Praxis studierte er an der Folkwangschule Essen Fotografie. Während des Studiums produzierte er seine ersten Reportagen für den Stern und das ZEITmagazin. Später spezialisierte er sich immer mehr auf das inszenierte Portrait. Als freier Mitarbeiter beim Stern fotografierte er zahlreiche Lifestylethemen sowie Prominente im In- und Ausland. Stefan Pielow arbeitet heute als freier Fotograf für internationale Magazine, Firmen und Agenturen. Seit 2002 lebt Stefan Pielow mit seiner Frau und zwei Töchtern in Starnberg. 
Für mare reiste Pielow seit Mitte der 90er Jahre an besonders exotische Orte, von den Bahamas bis zum Nordkap. 2011 erschien der mare-Bildband NEW YORK, für den Pielow Bewohner der Stadt am Meer portraitierte. 2016 produzierte er zusammen mit dem mareverlag das Buch: MEIN SCHIFF ENTSTEHT für die TUI Cruises GmbH.
Person Von Billy Starfish und Stefan Pielow
Vita Text: Billy Starfish

Stefan Pielow, geboren 1961, ist im Münsterland aufgewachsen und ging nach dem Abitur als freier Fotoassistent nach Hamburg. Nach dreijähriger Praxis studierte er an der Folkwangschule Essen Fotografie. Während des Studiums produzierte er seine ersten Reportagen für den Stern und das ZEITmagazin. Später spezialisierte er sich immer mehr auf das inszenierte Portrait. Als freier Mitarbeiter beim Stern fotografierte er zahlreiche Lifestylethemen sowie Prominente im In- und Ausland. Stefan Pielow arbeitet heute als freier Fotograf für internationale Magazine, Firmen und Agenturen. Seit 2002 lebt Stefan Pielow mit seiner Frau und zwei Töchtern in Starnberg. 
Für mare reiste Pielow seit Mitte der 90er Jahre an besonders exotische Orte, von den Bahamas bis zum Nordkap. 2011 erschien der mare-Bildband NEW YORK, für den Pielow Bewohner der Stadt am Meer portraitierte. 2016 produzierte er zusammen mit dem mareverlag das Buch: MEIN SCHIFF ENTSTEHT für die TUI Cruises GmbH.
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