Massaker im arktischen Eis

Kanada gibt eine Million Robben zum Abschuss frei. So beginnt das größte Abschlachten, das je über die Tierwelt hereingebrochen ist

Das Bild vom herzlosen Robbenjäger, der reihenweise hilflosen Heulern und ihren Eltern den Schädel einschlägt, ist nicht überzeichnet. Im 18. Jahrhundert schlachteten die Briten an den Küsten Neufundlands im Schnitt 80000 Sattelrobben im Jahr. Bis zum Beginn des neuen Jahrhunderts hatten die Neufundländer ihre Technik mit tödlicher Effizienz verfeinert, und die Jagd begann im großen Maßstab. 1832 landeten die Schiffe der Robbenfänger 740000 der wertvollen Pelze an.

Es wäre ein Trost, wenn wir diese Massaker als Zügellosigkeit eines Zeitalters abhaken könnten, das von Tierschutz noch nichts ahnte. Doch ausgerechnet in unserer Zeit nimmt die kanadische Robbenjagd ein Ausmaß an, das alles in den Schatten stellt, was das 19. Jahrhundert gesehen hat. Zu Beginn dieses Jahres verkündete Kanada neue Quoten für die Robbenjagd, die wir getrost als das Startsignal für das größte kommerzielle Abschlachten bezeichnen dürfen, das je über die Tierwelt hereingebrochen ist.

975000 Robben sind zur Tötung freigegeben.

Viele Länder der Welt, die Vereinigten Staaten eingeschlossen, halten sich an ein striktes Importverbot für Robbenprodukte jeder Art, doch die kanadische Regierung lässt nicht ab von ihrer Jagdpolitik – aus Solidarität mit den Küstenregionen, die durch die Überfischung der Kabeljaubestände ihre wirtschaftliche Grundlage verloren haben. Auch in Zeiten, da Artenschutz als schützenswertes Gut erkannt und in internationalen Vereinbarungen verankert ist, regieren hier die wirtschaftlichen Interessen. Wenn Jobs und Robben im Wettbewerb stehen, gewinnen heute die Arbeitsplätze – Robben gehen schließlich nicht zur Wahl. Noch in den achtziger Jahren haben die Menschen gegen das Töten von Robben oder die Jagd auf Wale demonstriert; es scheint aus der Mode gekommen zu sein. Ja, es gibt Tierschutzorganisationen wie Peta (People for the Ethical Treatment of Animals), die der Überzeugung sind, dass es moralisch verwerflich sei, Tiere für ihre Pelze zu töten. Aber die Mehrheit denkt heute wohl eher, dass Tiere überhaupt nur deshalb Fell tragen, damit wir Mäntel daraus machen können.
Eine Million Robben werden in den kommenden zwei Jahren im Auftrag der Modeindustrie sterben.

Die meisten Menschen haben keine prinzipiellen Einwände, wenn Nutztiere getötet werden; wir essen heute beinahe jeden Tag Fleisch, und wir tragen Jacken und Schuhe aus Leder. Aber zwischen Rindvieh und Robbe besteht ein wesentlicher Unterschied, den die Jäger gerne unterschlagen: Rinder, die wir wegen ihres Fleisches und ihrer Häute benötigen, züchten wir; wir sorgen also selbst dafür, dass der Rohstoff nachwächst. Robben hingegen sind Wildtiere; wenn ihr Bestand nicht nachhaltig gesichert wird, das heißt in einem Maß, das die Existenz von künftigen Generationen garantiert, dann droht ihr Aussterben.

Die Nördliche Pelzrobbe zum Beispiel wird seit 4000 Jahren wegen ihres Specks und ihres Pelzes getötet. Das Volk der Aleuten hat wahrscheinlich bereits um 2000 v. Chr. auf den Inseln westlich Alaskas gesiedelt und – das belegen archäologische Funde – Robben gejagt. Die Meeressäuger mit dem dunklen Pelz und den langen Barthaaren verbrachten Millionen Jahre unbehelligt an diesen steinigen Küsten, und selbst die zugewanderten Aleuten störten ihre Kreise kaum.

Doch als 1741 die Expedition Vitus Berings vor den Inseln Schiffbruch erlitt, war es vorbei mit dem Frieden. Die Überlebenden berichteten daheim von wahren Massen an Robben, Seekühen und Ottern, die nur darauf warteten, eingebracht zu werden. Nur ein Jahr später fielen die ersten russischen Pelzjäger auf den Aleuten ein und wüteten im Blutrausch. Im Sommer 1786 stieß der Pelzhändler Gerassim Pribilof auf eine abgelegene Gruppe nebelverhangener Inseln im Beringmeer, auf denen es von Robben nur so wimmelte – auf drei Millionen Tiere schätzte der Russe den Bestand. Pribilof nahm die Inseln in Beschlag, und bald darauf rückten die Jäger an. Allein in den ersten beiden Jahren erlegten sie 40000 Pelzrobben und 2000 Otter, erbeuteten sie 6000 Blaufuchspelze und 125 Tonnen Walrosselfenbein.

Auch den Südlichen Pelzrobben (Seebären) sollte es nicht besser ergehen. Sie wurden ihrer Pelze wegen zu Millionen erschlagen. Aber anders als ihre nördlichen Verwandten, deren Verbreitung auf die Pribilofinseln und die Aleuten beschränkt war, boten die Südlichen Pelzrobben vom Genus Arctocephalus (Bärenköpfige) einen unschätzbaren Reichtum an zum Verwechseln ähnlichen Spezies und Subspezies. Die Pelzjäger fuhren ihre blutige Ernte ein, bis sie die Tiere an einem Flecken fast vollständig ausgerottet hatten, und segelten zu den nächsten Inseln, um neue Populationen ausfindig zu machen. Wo immer die Jäger auf Robbenkolonien stießen, töteten sie so viele Tiere, wie sie nur konnten. Die meisten Häute verkauften sie nach China.

Die erste Ladung Pelze, die südlich des Äquators erbeutet wurde, stammte 1784 von den Falklandinseln. Kapitän Benjamin Hussey und seine „United States“ kehrten mit 13000 Robbenhäuten und 300 Tonnen Tran von See-Elefanten nach Nantucket zurück. Die Pelze gingen für 50 Cent das Stück an Händler in New York, von wo sie an Bord der Brigg „Eleanora“ 1787 nach Kanton verschifft wurden. Dort zahlte man fünf Dollar je Stück, und es begann ein Kapitel höchst lukrativer amerikanisch-chinesischer Handelsbeziehungen.

Wegen ihres dichten Unterfells wurden die Pelzrobben bis in die unwirtlichsten Regionen der Welt verfolgt, und zwar so lange und so unerbittlich, bis viele Spezies am Rande der Auslöschung standen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts suchten Robbenjäger das Südpolarmeer systematisch nach Inseln ab, auf denen sie die Pelztiere massakrieren konnten; tatsächlich wurden viele der abgelegeneren Eilande überhaupt erst im Lauf dieser Beutezüge entdeckt. Südgeorgien gelangte 1775 zwar durch James Cook auf unsere Seekarten (der nachweislich nicht nach Meeressäugern fahndete, die er zu töten gedachte), aber kaum hatte er seine Berichte über den Reichtum an Walen und Robben der Inselgruppe verfasst, machten sich die Jäger auf die Reise.

Pelz- und Sattelrobben starben wegen ihrer Häute, See-Elefanten als Lieferanten von Tran; bei Seelöwen waren vor allem Schnurrhaare und Hoden begehrt; das Arktische Walross war wegen seiner gewaltigen Stoßzähne gesucht, die wie das Elfenbein der Elefanten zu Schnitzereien verarbeitet wurden. Ringel-, Gürtel- und Bartrobbe hatten nur Eisbären und Inuit zu fürchten; sie besaßen nichts, was Europäer oder Chinesen begehrten, und auch wenn manche von ihnen wegen ihres Fleisches oder ihrer Häute erlegt wurden, so war ihr Leben auf dem arktischen Eis im Großen und Ganzen sicher vor Gewehren und Harpunen. Der Nördliche See-Elefant, wie sein Pendant im Süden ein Opfer der Trankocher, war zeitweise bis auf einige wenige Exemplare ausgelöscht. Manche Seebärenarten wurden im 18. Jahrhundert derart dezimiert, dass sie als ausgestorben galten.


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mare No. 44

No. 44Juni / Juli 2004

Ein Essay von Richard Ellis

Der New Yorker Richard Ellis hat sich als Maler einen Namen gemacht. Er zeichnete Wale und Haie, veröffentlichte eine illustrierte Enzyklopädie der Ozeane, und während er sich tiefer in die Materie versenkte, verwandelte er sich vom reinen Betrachter der Meere zu ihrem Schützer. Im Frühjahr 2005 erscheint im marebuchverlag sein Buch über die Plünderung der Weltmeere.

Aus dem Amerikanischen von Olaf Kanter.

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Vita Der New Yorker Richard Ellis hat sich als Maler einen Namen gemacht. Er zeichnete Wale und Haie, veröffentlichte eine illustrierte Enzyklopädie der Ozeane, und während er sich tiefer in die Materie versenkte, verwandelte er sich vom reinen Betrachter der Meere zu ihrem Schützer. Im Frühjahr 2005 erscheint im marebuchverlag sein Buch über die Plünderung der Weltmeere.

Aus dem Amerikanischen von Olaf Kanter.
Person Ein Essay von Richard Ellis
Vita Der New Yorker Richard Ellis hat sich als Maler einen Namen gemacht. Er zeichnete Wale und Haie, veröffentlichte eine illustrierte Enzyklopädie der Ozeane, und während er sich tiefer in die Materie versenkte, verwandelte er sich vom reinen Betrachter der Meere zu ihrem Schützer. Im Frühjahr 2005 erscheint im marebuchverlag sein Buch über die Plünderung der Weltmeere.

Aus dem Amerikanischen von Olaf Kanter.
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