Marseille – Die schöne Rebellin

Die flamboyante Mittelmeermetropole erklärt sich am besten von ihrer Hafenseite her – vom Vieux-Port, Herz und Seele und Salon der Stadt

Bonjour Massalia, Ave Mas­silia. Wir Passagiere stehen frühmorgens auf dem Oberdeck eines Ausflugsdampfers oder Handelsschiffs und nähern uns, von Süden anreisend und aus Algier oder dem sardischen Porto Torres kommend, mit neugierigen Blicken der legendären Rade de Marseille, der Reede. Rechts an uns vorübergezogen ist längst der nahezu unbesiedelte Riou-Archipel, das schmucke Städtchen Cassis, das unwegsame Massif des Calanques mit seinen spektakulären, gezackten Felsbuchten, tiefen Einschnitten und wilden Schluchten sowie Les Goudes, im äußers­ten Südosten der Metropole, eine noch ursprüngliche Fischersiedlung – inzwischen ein attraktives Viertel vor den Toren der lärmenden Stadt. Unser schwimmender Untersatz vollzieht auf Höhe des begehrten Strands und Naherholungsziels Plage du Prado, Mekka für Windsurfer wie Beachvolleyballer, und der populären Plage du Prophète eine größere Linkskurve, denn jetzt muss an den zerklüfteten Frioul-Inseln und dem sagenumwobenen Château d’If mit seiner Gefängnisfestung umsichtig vorbeimanövriert werden, um zu guter Letzt, nach erfolgter Umrundung, scharf nach rechts in den nahenden Vieux-Port einzubiegen – schließlich öffnet sich Marseilles geschütztes Hafen­becken nach Westen.

Das offene, mitunter stürmische Meer lassen wir, mittlerweile von Fischerkähnen, Ausflugsbooten und Amateurseglern umgeben, nun hinter uns. Zur Linken gewahren wir bereits die Bahnhofs- und Universitätsviertel von Saint-Charles und Saint-Lazare, Altstadt und Kathedrale, dahinter den bedeutenden Industriehafen Fos mit seinen gigantischen Kreuzfahrt- und Containerterminals sowie, weiter nördlich in der Ferne, L’Estaque, einen ehemaligen Industrievorort direkt am Ufersaum, der in den sozialpoetischen Filmen von Robert Guédiguian gefeiert und auf Gemälden von Cézanne, Renoir und Braque festgehalten wurde – er verströmt noch immer dörfliches Ambiente und zehrt von seiner Vergangenheit. 

Zur Rechten grüßt uns, jenseits von Bompard, Saint-Lambert und den Küstenstraßen der Corniche in luftigen Gefilden über dem Häusermeer thronend, die neobyzantinische Basilika Notre-Dame-de-la- Garde, Wahrzeichen und von den Einwohnern als „gute Mutter“ bezeichnet, von einer Anhöhe. Und dazwischen erhebt sich, soweit das Auge reicht, der riesige, undurchdringliche Stadtdschungel, der ­liebenswerte Moloch Marseille, umzingelt von scheußlichen Wohnsilos und nüchternen, bis ins Hinterland wuchernden Trabantensiedlungen. 

Zwischen den in Jahrhunderten gewachsenen Vierteln Thiers, Camas und Lodi, zwischen Le Panier, Belsunce und Saint-Victor aber befindet sich das Herz und Zentrum der weltoffenen Stadt mit Flair, dessen innerer Kern von der berühmten Prachtavenue La Canebière, Flanierachse und Einkaufsparadies, in nordöstlicher Richtung in zwei fast symmetrische Teile zerschnitten wird.

Was uns indessen als Erstes ins Auge fällt – noch bevor das neue Museums­prunkstück Mucem, das spätnapoleonische Palais du Pharo, der historische Leuchtturm Fanal und das majestätische Fort Saint-Jean an uns vorbeigleiten und wir inmitten der in Reih und Glied vor Anker liegenden Segelboote für einen kurzen Moment innehalten – und was den Gestaden von Marseille ihre unnachahmliche, fast ein wenig abweisende Stimmung verleiht, ist das dunkle, mitunter nachtschwarze und so gar nicht liebliche Blau des hiesigen Meeres. Mit seiner metallenen Härte wirkt es herausfordernd und unversöhnlich auf uns. Die starken Farbkontraste zwischen düsterem Wasser, konturenreicher Küste, grauen Appartementtürmen, sonnendurchglühten Aussichtsterrassen und gleißenden Hotelfassaden frappieren auf Anhieb. Wenig Zwischentöne und so gut wie keine Anmut, stattdessen extreme Lichtverhältnisse und bedrohliche Schattenspiele sind hier, zwischen Häuserschluchten und schroffen Landvorsprüngen, vorherrschend. Im so quirligen wie quicklebendigen Marseille einzutreffen und Festland unter den Füßen zu spüren heißt eben auch, mit einer eher nordischen Atmosphäre konfrontiert zu werden, dem eisigen, jahraus, jahrein aus Nordwesten durchs Rhônetal bis hierher fegenden Mistral, einem unbarmherzigen Fallwind, zu trotzen und uns, kaum dass wir von Bord gehen können, angesichts eines fröhlichen Potpourris der Kulturen, das hier auf Schritt und Tritt anzutreffen ist, schon mit exotischen, meist nordafrikanischen Gepflogenheiten und Aromen anzufreunden.

Mit jedem zurückgelegten Meter nehmen wir sie ein wenig mehr in Besitz: die zweitgrößte, extrem ausgedehnte Stadt Frankreichs und, mit sage und schreibe mehr als 2600 Jahren Geschichte auf dem Buckel, wohl auch älteste Stadt des ganzen Lands überhaupt – mit ihren 16 Arrondissements und 111 Quartiers sowie mehr als 50 Kilometer Küstenlinie. Um die 870 000 Menschen von überallher sind hier zu Hause, darunter zahllose Benachteiligte, Unterprivilegierte und Vertriebene.

Seine charakteristische Topografie – gesegnet mit dem Naturhafen Lacydon, der hervorragenden strategischen Lage inklusive Kontrollmöglichkeit über die westliche Meereshälfte, die fruchtbare Vallée du Rhône im Rücken und den Blick auf die Iberische Halbinsel gerichtet – hat es für diese wichtige Rolle im Weltgeschehen geradezu prädestiniert: Tor zum Mittelmeer am nordöstlichen Rand des Golfe du Lion, maritimer Vor­pos­ten der sie umrahmenden Provence, direkter Zugangs- und Verbindungsort zum afrikanischen Kontinent. Kapitale der noch immer ungeliebten „pieds noirs“, der europäischen Algerienfranzosen, Zentrum instabiler ökonomischer Verhältnisse wie internationaler Verkehrswege, ewige Nebenbuhlerin von Barcelona und Piräus: Vor allem anderen zeichnet das hektische, nicht selten chaotische Marseille, die vormalige „cité des phocéens“ und das antike Massalia/Massilia, seine wechselhafte Rolle als Hafenmetropole aus. 

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mare No. 158

mare No. 158Juni / Juli 2023

Von Jens Rosteck und Jan Windszus

Als Jens Rosteck, Jahrgang 1962, noch an der Côte d’Azur lebte, näherte er sich Marseille stets von seiner Wahlheimat Nizza an und entwickelte rasch ein ­Gespür für die fortgesetzte Rivalität der beiden ­Mittelmeermetropolen. Konkurrenz herrscht auf ­allen ­Ebenen. Und wo Nizza mit Weltläufigkeit und ­unwiderstehlicher italianità punktet, hat Marseille als begehrenswerte Hafenstadt eindeutig die Nase vorn.

Der Berliner Fotograf Jan Windszus, Jahrgang 1976, ist Liebhaber südlichen Lichts, das er ­meisterlich ­festhält. Für mare hat er drei Bildbände fotografiert: ­Griechenland, Tel Aviv und Lissabon.

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Vita

Als Jens Rosteck, Jahrgang 1962, noch an der Côte d’Azur lebte, näherte er sich Marseille stets von seiner Wahlheimat Nizza an und entwickelte rasch ein ­Gespür für die fortgesetzte Rivalität der beiden ­Mittelmeermetropolen. Konkurrenz herrscht auf ­allen ­Ebenen. Und wo Nizza mit Weltläufigkeit und ­unwiderstehlicher italianità punktet, hat Marseille als begehrenswerte Hafenstadt eindeutig die Nase vorn.

Der Berliner Fotograf Jan Windszus, Jahrgang 1976, ist Liebhaber südlichen Lichts, das er ­meisterlich ­festhält. Für mare hat er drei Bildbände fotografiert: ­Griechenland, Tel Aviv und Lissabon.

Person Von Jens Rosteck und Jan Windszus
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Als Jens Rosteck, Jahrgang 1962, noch an der Côte d’Azur lebte, näherte er sich Marseille stets von seiner Wahlheimat Nizza an und entwickelte rasch ein ­Gespür für die fortgesetzte Rivalität der beiden ­Mittelmeermetropolen. Konkurrenz herrscht auf ­allen ­Ebenen. Und wo Nizza mit Weltläufigkeit und ­unwiderstehlicher italianità punktet, hat Marseille als begehrenswerte Hafenstadt eindeutig die Nase vorn.

Der Berliner Fotograf Jan Windszus, Jahrgang 1976, ist Liebhaber südlichen Lichts, das er ­meisterlich ­festhält. Für mare hat er drei Bildbände fotografiert: ­Griechenland, Tel Aviv und Lissabon.

Person Von Jens Rosteck und Jan Windszus