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Empfehlungen der Redaktion aus Literatur, Musik, Film und Kulturleben

Den Orient immer in Sicht
Avantgarde in antikem Ambiente – das Samos Young Artists Festival vermittelt anspruchsvolle Kunst mit mediterraner Leichtigkeit

Es ist nicht eben selbstverständlich, dass ein Kulturfestival magische Momente erzeugt. Schon gar nicht, wenn es noch jung ist, noch ohne falsche Adelung und mit nichts als einer freien, ungehemmten Schaffenslust, die keine Akkolade erwartet. Aber im Fall des 2012 auf der Sporadeninsel Samos ins Leben gerufenen Samos Young Artists Festival waren wohl alle guten Götter der Kunst im Spiel. In den zwei Sommern hat der Hafenort Pythagorion erhebende Momente erlebt wie wohl nicht mehr seit den Tagen des antiken Samos anthemis, der „Blühenden“, in denen Epikur, Pythagoras, Äsop, Herodot und Polykrates die Insel zu einem geistigen Pol machten.

Die Erzählung des Festivals wird wohl einmal mit der ungewöhnlich glücklichen Verbindung seiner Prämissen beginnen: Kunst und Musik mit einem beinahe radikalen intellektuellen Anspruch, heiter, luftig, elegant präsentiert und nie elitär oder von wohlfeiler l’art pour l’art, stringent kuratiert und programmiert von jungen Newcomern, die noch keine Fesseln der Kulturwelt spüren, dazu eine legere, familiäre Atmosphäre voller griechischer Herzlichkeit, zwei zauberhafte Schauplätze und nicht zuletzt das großzügige, nicht großtuerische Mäzenat des deutsch-griechischen Unternehmerehepaars Chiona Xanthopoulou-Schwarz und Kurt Schwarz und ihrer Schwarz Foundation.

Im vergangenen Jahr war es auf der Kunstseite des Festivals das Kollektiv Slavs and Tatars mit dem humorvollhintergründigen Zyklus „Long Legged Linguistics“, der sich mit dem eurasischen Kulturraum zwischen Berliner und Chinesischer Mauer beschäftigt und in dem weißen Kubus des Art Space, der kontrapunktisch in den pittoresken Hafen Pythagorions eingefügt ist, einen verblüffenden Erkenntnisgewinn über Schnittmengen und Brückenköpfe zur Überwindung der Gräben schenkte.

Ein Geschenk war auch das Musikfestival. Wiederum ein west-östlicher Diwan – Volksmusik von Weißrussland über die Türkei bis Frankreich, vom Barock bis heute, das alles in Pythagorions bezauberndem, intimen antiken Amphitheater, gewiss eine der schönsten Spielstätten, plein air und mit göttlicher Akustik.

Das diesjährige Musikprogramm folgt den Prinzipien der Geburtsurkunde des Festivals: Jugend und Grenzgang. Vom 7. bis 13. August werden allabendlich in kluger Kontrastierung glänzende junge Musiker aus aller Welt die scheinbaren Gegensätze von klassischer Musik und Jazz, Oper und Tango auflösen.

Samos’ Lage am äußersten Rand des Okzidents, den Orient immer in Sichtweite – und damit das Schicksal der Armutsmigranten –, wird für die Kuratoren der diesjährigen Kunstausstellung ein Impuls gewesen sein, die 1972 geborene, in Berlin lebende Türkin Nevin Aladag einzuladen. In ihrer Ausstellung „Borderline“ zeigt sie Videoarbeiten, Klangstücke und „räumliche Interventionen“, die Grenzen und ihre Überschreitung, kulturelle Identität und die Wahrnehmung von Heimat, Nähe und Distanz zum Thema haben.

Es ist ein ungewöhnliches, großes Vergnügen, wie substanziell und zugleich genussvoll hier Kunst vermittelt wird. Es wird wohl wieder magische Momente geben. Karl Spurzem

Samos Young Artists Festival, Musikfestival, Amphitheater Pythagorion,
Samos; Ausstellung „Borderline“ von Nevin Aladag bis 10. Oktober, Art Space Pythagorion;
www.schwarzfoundation.com


Mit der Staffelei im Wind
Es arbeitet sich draußen anders als im Atelier. Sieben Künstler zeigen am Strand von Heringsdorf, wie die Pleinairmalerei funktioniert

Was könnten Schafe, Strandkörbe und ein Traktor miteinander zu tun haben? Auf den ersten Blick nichts. Doch auf Usedom stehen alle drei dicht beieinander: die einen auf der Wiese hinter der Villa Irmgard, die anderen ein paar Meter weiter am Strand von Heringsdorf, das alte Vehikel russischer Bauart gleich daneben zwischen den Fischerhütten. Während die Strandkörbe nicht zu übersehen sind, nimmt man die Tiere und Fahrzeuge erst wahr, wenn sie zu Motiven der Maler werden, die sich von der Insel inspirieren lassen. Wie beim Pleinair im Mai, bei dem sieben Künstler aus Hamburg, Berlin und Brandenburg zu Gast waren. Bereits zehnmal fand das Freiluftmalen statt. Zum Jubiläum lud die Jury nicht nur „Wiederholungstäter“ ein, sondern auch den Berliner Schriftsteller Jakob Hein, der einen literarischen Katalogtext beisteuerte.

Jeden Morgen schwirrten die sieben mit Staffeleien und Malutensilien in alle Richtungen, um sich mal am Strand, mal vor den Villen der Kaiserbäder oder an einem Stück Steilküste niederzulassen. Dann wurden Badegäste, Hunde, Fischerboote und die Seebrücke auf die Leinwand gebannt. Und natürlich das Meer. Das Meer? Ist das wirklich die Ostsee, die auf den Gemälden von Corinna Göttlicher in gespenstischem Tiefschwarz schimmert? Auch bei Meike Lipps Möwen kann man Zweifel haben, ob es sich um die weiß gefiederten Vögel handelt, an denen sich die Badegäste erbauen. Bei der Hamburgerin sind sie zu bedrohlichen Ungeheuern geworden, viel größer als die Menschen, die vor ihnen in Deckung gehen. Und so wie Ulrich Baehr die Seebrücke mit dunklen Farbflächen dekonstruiert hat, lädt sie garantiert keinen zum Flanieren ein. Lag es daran, dass an manchen Maltagen ein ungemütlicher Sturm über die Insel hinwegfegte? „Nein, ich bilde grundsätzlich nicht einfach ab, was ich vor mir habe“, erklärt der Berliner, der eine Professur an der Fachhochschule von Hannover innehatte. „Normalerweise entwickele ich meine Themen im Atelier. Insofern ist das Pleinairmalen für mich eine Herausforderung.“

Die besteht auch für die anderen nicht nur darin, dass sie auf Usedom mit Wind, Sand und Passanten zu kämpfen haben, die fotografieren oder „Was soll denn das werden?“ fragen. „Das größte Problem ist für mich, dass hier alles so schön ist“, gesteht Corinna Göttlicher, die Jüngste der Künstler. „Als Großstadtmensch brauche ich immer etwas, an dem ich mich reibe.“

Jeder hat es auf seine Weise vermieden, dem Klischee der Inselidylle zu verfallen. Während Frank Suplie in seinen Werken ein „Postauto Belorus“ auffährt, mischt Sigurd Wendland, Initiator der Kaiserbäder-Veranstaltung, übergroße Füße und Fußstapfen in seine Strandszenen. Doris von Klopotek nimmt wiederum zu Motiven wie Maxim Gorki Zuflucht, der 1922 in der Villa Irmgard weilte. Und Wolfram Schubert? Stellt sich an die Maxim-Gorki-Straße und macht aus der simplen Straßenansicht eine Komposition von so erstaunlicher Farbigkeit und Vitalität, wie sie nur dem 88-jährigen Meister aus Potzlow gelingen kann. Ulrike Wiebrecht

Ausstellung „7 malen am Meer.10. Kaiserbäder-Pleinair auf Usedom“, bis 10. August: Galerie Fahrradbüro, Berlin, 21. August bis 4. Oktober: Galerie Rose, Hamburg,
Katalog: 64 Seiten, 9,80 Euro


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mare No. 105

No. 105August / September 2014

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