mare-Salon

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Entrückte Welt, intim beleuchtet
Die Fotografin Mila Teshaieva hat die Bewohner Föhrs sehr eigenwillig in Szene gesetzt: im Dunkeln, nur von einer Taschenlampe angestrahlt

mare: Ihre Bilder von Menschen auf der Insel Föhr wirken auf den ersten Blick wie Gemälde. Aber es sind Fotografien, sozusagen gemalt mit Licht.
Mila Teshaieva: Das Prinzip ist so alt wie die Fotografie selbst und basiert auf der Grundregel, dass ein Foto nur entsteht, wenn Licht auf das Negativ fällt. Für die Föhrer Bilder brauchte ich absolute Dunkelheit – schon bei Vollmond wäre es zu hell gewesen. Die Kamera stand auf einem Stativ, eingestellt auf eine Verschlusszeit von einigen Minuten – je nach Motiv. Ich konnte nur ahnen, wo die jeweilige Person sich befindet, tastete mich vorsichtig heran. Dann setzte ich mit einem kleinen Licht, etwa einer Taschenlampe, Akzente. Strich mit dem Lichtstrahl über die Stellen, die von der Kamera belichtet werden sollten. Also zum Beispiel das Gesicht, Teile vom Körper oder auch vom Umfeld: Gräser, Bäume … Der Rest blieb im Dunkel.

Eine sehr intime Aufnahmesituation. Wie reagierten die doch als eher konservativ und unzugänglich bekannten Insulaner auf Ihr Projekt?
Ich wusste um diese Klischees. Aber während der zwei Jahre, die ich insgesamt auf Föhr an dem Projekt gearbeitet habe, verweigerte sich kein Einziger – ganz im Gegenteil: Vom älteren Jäger bis zum jungen Pfadfinder waren alle bereit, alles zu geben: An einem Märztag musste ein pensionierter Fischer 30 Minuten lang in kaltem Wasser stehen. Ein respektierter Inselarzt verbrachte im Dezember vier Stunden ohne Bewegung im Wald. Jede meiner Fotografien erzählt auch eine Geschichte der Geduld, Offenheit und Hingabe der Insulaner. Es ist ja nicht üblich, dass wir einem Fremden erlauben, uns in einer solchen Dunkelheit und Stille so nahe zu kommen, dass er uns berührt. Ich bin sehr stolz auf dieses Vertrauen.

Niemand, auch Sie selbst nicht, wusste während der Aufnahme, was genau am Ende auf dem Bild zu sehen sein würde. Wie war das für Sie als Fotografin?
Die lange Verschlusszeit beeinflusst nicht das Bild, aber die Stimmung am Set. Da entsteht immer eine gewisse Magie. Es ist ein sehr spontaner Prozess und jedes Bild eine Überraschung. Man kann das nicht wirklich kontrollieren.

Wie reagierten die Porträtierten am Ende auf die Bilder?
Es gab einen großen Abend vor der eigentlichen Eröffnung im Museum Kunst der Westküste auf Föhr. Alle, die ich fotografiert hatte, waren eingeladen. Und sie waren überwältigt – von etwas, das sie von sich selbst so nicht gekannt hatten. Irgendwie entdeckten sie die Zerbrechlichkeit ihrer Welt. Ich war wirklich überrascht, wie gut sie die Bedeutung der Ästhetik der Bilder erkannten. Es war ein toller Abend.

Inwieweit sind die Bilder inszeniert? Welchen Einfluss konnten die Insulaner nehmen? Wie haben Sie die Protagonisten ausgewählt?
Zunächst suchte ich nach Leuten, deren Dasein dem Leben auf der Insel eine Bedeutung geben. Dann haben wir gemeinsam nach Orten gesucht, um die Aufnahme zu machen. Ich habe alle in ihrem alltäglichen Umfeld fotografiert. Manchmal funktionierte das ganz einfach. Manchmal ging es total schief. Es gibt zum Beispiel ein Bild einer Reiterin. Sie brachte Äpfel mit zum Set, für die Pferde. Ich bat sie während der Aufnahme einen der Äpfel in der Hand zu halten – und so kam es zu einer Aufnahme, auf der die Insel gleichsam als erfundenes Paradies erscheint.

Sie selbst stammen aus der Ukraine, leben in Berlin. Warum das nordfriesische Inselleben als Motiv?
Zum ersten Mal war ich 2013 auf Föhr, um meine Ausstellung „Promising Waters“ im Museum Kunst der Westküste vorzubereiten. Ich entdeckte einen Ort, der jenseits des Rummels vom Festland liegt, erhalten in seiner natürlichen, ehrlichen Form. Dann lernte ich die Einheimischen kennen, die mit diesem Stück Land über Generationen verbunden sind. Föhrs Identität basiert ja auf dem Meer. Zum Beispiel auf den Geschichten der Kapitäne, die bereits vor 500 Jahren die ganze Welt entdeckten und das Wissen aus der Fremde auf die Insel brachten. Es ist aber auch ein Ort der Wehmut: Zweimal am Tag sieht man das Meer kommen und gehen. Und man spürt, eines Tages wird man selbst verschwinden, aber Ebbe und Flut wird es immer geben.

Ihr Bildband trägt den mehrdeutigen Titel „InselWesen“. Was hat Sie bei Ihrer Arbeit mehr fasziniert, die Landschaft oder Ihre Bewohner?
Ich kann die Insel nicht von ihren Bewohnern losgelöst sehen oder auch umgekehrt. Beide sind auf eine seltsame Weise verbunden, als Ort, an dem Vergangenheit und Gegenwart nebeneinander existieren – konserviert in ihrer Abgeschiedenheit von der Welt. Die beidem etwas sehr Fragiles gibt.
Noch gibt es auf Föhr Leute, die traditionelle Methoden wie den Fischgarten oder die Vogelkoje pflegen – einst in der Nordsee weit verbreitete Formen des Fischfangs und der Jagd von Enten. Wenn diese Menschen sterben, werden mit ihnen auch diese althergebrachten Fangmethoden verschwinden.
Das Gespräch führte Roland Brockmann

Mila Teshaieva: „InselWesen“, Kehrer, Heidelberg, 2016, 96 Seiten, 29,90 Euro

Zwei Leben im Eis
Feinsinnige Fotokunst über die Kinder der sibirischen Nenzen

Die „Tundra Kids“ geben einem kleinen Kunstbuch seinen Titel, das der Fotograf Ikuru Kuwajima für den Verlag Schlebrügge Editor gestaltet hat. Dort veröffentlich man seit zehn Jahren Bücher in Zusammenarbeit mit Künstlern, die das Ergebnis als Teil ihres Werkes verstehen. Kuwajima wuchs in Japan auf und studierte Journalismus in Columbia, Missouri (USA). Er lebt seit vielen Jahren in postsowjetischen Staaten. Die von ihm porträtierten Kinder leben nördlich des Polarkreises, in einem Internat für den Nachwuchs des indigenen Volkes der Nenzen. Den Sommer verbringen sie mit ihren Familien, teilen das traditionelle Leben mit Rentieren und Zelten. Im Winter, in der Schule, werden sie an die Moderne herangeführt.
Mit viel Nähe, nicht nur im fotografischen, sondern auch im menschlichen Sinn, widmet sich der Fotograf den Kindern. Er zeigt sie mal mit Plastikspielzeug, mal mit Rentiergeweihen. Sie tragen T-Shirts ebenso wie Felljacken und wirken in beidem authentisch. Auf der Rückseite des als Leporello gestalteten Buches hat Kuwajima Zeichnungen der Kinder versammelt, sie zeigen Motorschlitten mit derselben Selbstverständlichkeit wie Rentiergespanne. Die 60 Kinder der Nenzen, so scheint es jedenfalls, nehmen den Bruch der Tradition wenig dramatisch wahr. Das moderne und das traditionelle Leben in Sibirien ist für sie kein Widerspruch. Passend dazu stellt Kuwajima ein nenzisches Volksmärchen, „Wie der mächtige Adler die Sonne zurückbrachte“, an dessen glücklichem Ende die Sowjetmacht für den Adler steht. Barbara Schaefer

Ikuru Kuwajima: „Tundra Kids“, Schlebrügge Editor, Wien, 2015, 83 Seiten, 28,20 Euro

Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 118. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 118

No. 118Oktober / November 2016

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