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Musik, die von Küste zu Küste klingt
Das Baltic Sea Philharmonic Orchestra leistet Völkerverständigung im Ostseeraum. Alle Mitglieder sind dem heimischen Meer verbunden

Es gibt nicht viele Musiker, die mit ihrem Dirigenten in der Ostsee baden gehen. Für das Baltic Sea Philharmonic Orchestra (BSP) allerdings ist das Meer Programm, alle Mitglieder sind in den zehn Anrainerstaaten der Ostsee verwurzelt, zweimal im Jahr gehen sie entlang der Küste ihrer Heimatländer auf Tour. „Wir sind mehr als 70 Musiker, wir haben so vielfältige Geschichten, aber die Musik überwindet Grenzen“, erklärt Kristjan Järvi, Spross einer estnischen Dirigentendynastie mit US-amerikanischem Pass, der das Orchester Ende 2015 gegründet hat.
Wenn er die Musiker versammelt, ist der Sprung ins kalte Wasser obligatorisch, auch im übertragenen Sinn. Das Eintauchen ist Teil seiner Musikphilosophie. „Dirigieren ist wie Tauchen“, erzählt er bei einem Gespräch in der Konzerthalle der süddänischen Stadt Sønderborg. „Man schwebt in einer anderen Dimension.“ Kristjan Järvi kann tauchen. Er ist am Meer aufgewachsen, zuerst in Estland, später in New York, heute lebt seine Familie in Florida.
Im Herbst 2016 reiste er mit seinem Orchester entlang der Küste von Litauen über Dänemark nach Deutschland. Die Halle in Sønderborg, eine architektonische Perle aus dem Jahr 2007, steht auf einer Halbinsel und bietet einen „Surround Sound“-Effekt, der dem Hörer den Eindruck vermittelt, komplett einzutauchen in die Musik. Sie zählt zu den akustisch besten neuen Spielstätten in Nordeuropa.

An zwei windigen Septembertagen wird Järvis Orchester hier Kompositionen zum Symboltier Schwan aufführen, drei Konzerte am Tag, Klassik für mehr als 4000 Schulkinder, die mit Bussen aus dem Umland für das Bildungserlebnis herbeitransportiert wurden, während auf dem Promenadendeck am Alsensund ein paar Schwäne rasten, als gehörten sie zum Programm. Es enthält Stücke wie Arvo Pärts „Swansong“, „Swahnevit“ von Jean Sibelius und eine vom Orchesterchef arrangierte Fassung von Tschaikowskis „Schwanensee“. Kristjan Järvi ist einer, der während der Zugabe von der Bühne springt und das Publikum zum Tanzen animiert. „Viele denken, ich sei verrückt“, gesteht Järvi und zeigt sein breites, offenes John-Travolta-Lächeln, „weil ich Idealist bin. Aber du musst die Dinge idealisieren, sonst bringst du sie nicht zu Ende. Als Dirigent musst du die Vorstellung haben, leicht zu sein, im Fluss, zu schweben.“
Und wo befinden sich in diesem Bild seine Musiker? Die 24 Violinen, neun Violas, sieben Celli, fünf Kontrabässe, drei Querflöten, drei Oboen, drei Klarinetten, drei Fagotte, vier Waldhörner, vier Trompeten, eine Tuba, eine Harfe, ein Klavier und fünf Perkussionisten? „Das Orchester ist der Ozean“, philosophiert Järvi weiter. „Man muss hineinspringen in diesen Flow der Musik, in diese Energie, und das Orchester von innen heraus formen.“ Dabei seien Musiker wie Tropfen in einer riesigen Welle. „Eine ehemals winzige Welle hat einmal einen winzigen Impuls bekommen. Und dieser Impulsgeber, der war ich.“
Die Debüttour des 2015 gegründeten Orchesters hieß „Baltic Sea Landscape“ und stand unter der Schirmherrschaft der Umweltminister Finnlands, Estlands und Russlands. In Helsinki spielte es ein Benefizkonzert für Umweltprojekte in der Ostseeregion. „Bei uns geht es um viel mehr als klassische Musik. Es geht um den Menschen, die Natur, unsere Erde.“ Die zweite Reise „Baltic Sea Discovery“ befasste sich im Herbst 2016 mit dem Phänomen Entdeckungen – von Landschaften, Küstenorten und von bekannten und unbekannten Komponisten aus dem Ostseeraum.

„Das BSP will Menschen mit unterschiedlichen Biografien und in einer früher durch Krieg und Politik geteilten Region zusammenbringen“, erzählt Järvi. Die Künstler kommen aus Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland, Russland, Estland, Litauen, Lettland, Polen und Deutschland. Sie befassen sich deshalb nicht nur mit Noten, sondern auch mit Politik und Natur der Region. So hat der polnische Politiker und Friedensnobelpreisträger Lech Walesa vor dem Konzert in Danzig eine Rede gehalten. Und das Orchester durfte das Solidarność-Zentrum besuchen.
Sich mit der Geschichte des Ostseeraums zu beschäftigen bedeutet für Musiker auch, sich mit den Lebensgeschichten der Kollegen zu befassen. Es gibt einen Wellenreiter, ein paar Paddler – im Orchester entdecken sich nicht nur Weggefährten, sondern auch Sportfreunde. „Das Meer ist das, was wir alle teilen, was uns trennt und gleichzeitig verbindet“, sagt Järvi. Die Cellistin Lydia Eriksson etwa ist auf einer kleinen Ålandinsel zwischen Schweden und Finnland aufgewachsen. Sie hat die einzige Musikschule der Inselgruppe besucht und ging schon mit 16 Jahren zum Studium nach Helsinki.

„Mein Ururgroßvater ist mit seinem Fischerboot auf See verschollen, die Männer konnten damals oft nicht schwimmen. Die Erzählungen darüber haben meine Kindheit geprägt. Der Ozean ist für mich voller Gefühle, ähnlich wie die Musik“, sagt sie.

Der Berliner Bratschist Maximilian Procop verbindet mit dem Meer hohe Wellen und jede Menge Spaß. Regelmäßig habe seine Familie die Sommerferien in der Nähe von Rostock verbracht. „Dort durfte ich surfen. Das Meer hat mich gewissermaßen vor einem Wunderkindmartyrium bewahrt. Ich durfte mich dort ausleben.“ Die junge Trompeterin Ekaterina Wostrikowa stammt aus Sankt Petersburg und studiert im norwegischen Trondheim. „Ich brauche nur 20 Minuten bis zum Meer“, berichtet sie. „Ein schönes Gefühl, wenn man bedenkt, dass uns das Wasser verbindet.“ Und der Bratschist Nils Biesewig hat die See schon in Kindertagen als Paddler vor Usedom befahren und fühlt sich am Ende der Tournee in Peenemünde „wie bei einem Heimspiel“.

Besonders spannend wird es, wenn die Crew von einem der ganz großen Virtuosen begleitet wird. Wie zuletzt von dem Geiger Gidon Kremer, der ein ergreifendes Violinkonzert des sowjetischen Komponisten Mieczyslaw Weinberg im Gepäck hatte. „Ich war sehr beeindruckt, wie gut Järvi das junge Orchester vorbereitet hat“, sagt er. „Die Musik als Sprache unserer Gefühle kann eine neue Offenheit zwischen den Menschen stiften und ein besseren Verstehen ins Leben rufen.“

Kristjan Järvi ist beglückt, dass Gidon Kremer ein paar Tage mit an Bord war. „Wir beide gehören zu den bekanntesten Exporten dieser Ostseeregion. Uns verbindet der Gedanke einer friedlichen Einheit der baltischen Staaten, wir musizieren für die Freiheit in der Region, für ein friedvolles Miteinander und für den Erhalt der Natur.“
www.baltic-sea-philharmonic.eu


Bewacht von Wind und Meer
Im Osten Patagoniens bestimmt die Natur das Dasein. Ein literarischer Bildband fängt die Stimmung der Landschaft und ihrer Bewohner ein

„Sie baten mich herein. Mit der Nacht war der Regen gekommen, der Südwind blies die Flut heran. Die Wellen klatschten gegen den Strand, die Menschen blieben in den Häusern.“ Es sind kurze, kräftige Worte, mit denen Elida Fernández die Landschaft der Halbinsel Valdés im Osten Patagoniens beschreibt. Eine Halbinsel, an deren Grenzen „die beständigen Wächter des Areals“ warten: „der Wind und das Meer“.

Der Blick ihrer Bewohner, der pescadores artesanales, gleitet in den zugehörigen Bildern von Jutta Riegel skeptisch über das Meer, aus dem sie Muscheln, Fische und Salz holen, um sie in ihre Hütten zu tragen, wo auf Tischen mit bunt bedruckten Decken Wasserflaschen und Aschenbecher stehen. Auf Plastikstühlen sitzen alte Männer und Frauen mit braunen Gesichtern, deren mürbe Stimmen man zu hören scheint, sobald man ihre Bilder sieht. Bilder, die, wie es der Untertitel ankündigt, „das Karge und das Reiche an einem Rand der Welt“ zeigen.

Die Kargheit erkennt man auf den ers-ten Blick, den Reichtum erst auf den zweiten. Am Rand von Valdés stehen keine Bohrtürme und keine barocken Bankgebäude, selbst der Küstenstreifen der Halbinsel ist ein freier und scheinbar endloser Raum. Genau darin liegt der Reichtum, die Chance: Der fast menschenleere Landstrich „lädt dazu ein, bewohnt zu werden“, sich einen „Lebensraum zu errichten, unter größeren Schwierigkeiten und ohne viel Bequemlichkeiten“, aber im Einklang mit der Natur.

Im Bildband von Jutta Riegel und Elida Fernández wird die Küste Patagoniens zum Symbol der Freiheit. Neben die kurzen Texte, die sich keiner Struktur, keinem Genre unterwerfen und stattdessen „der Freiheit, dem Meer“ huldigen, die sich gestatten, hier poetisch, da prosaisch zu sein, mal wie ein Roman und schon eine Seite weiter wie ein politischer Essay zu klingen, stellt Riegel Bilder, die „von Ocker und Grün, Gelb und Blautönen geradezu überfließen“, Fotografien, die auf mattem Papier jene Hunderte Straßenkilometer einzufangen versuchen, „die fast keine Kurve kennen“ und sich alle „dem Meer entgegensehnen“. Bilder von einem Ort, wo das Meer auf das Land trifft, von „Rändern, Linien und Biegungen“ und menschenlosen Küstenstreifen. Dieses Buch ist ein überzeugendes Plädoyer für das einfache Leben. Hans W. Korfmann

Elida Fernández, Jutta Riegel: „Die Freiheit, das Meer. Über das Karge und das Reiche an einem Rand der Welt“, aus dem Spanischen von Silke Kleemann, Corso, Wiesbaden, 2016, 128 Seiten, 28 Euro

Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 120. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 120

No. 120Februar / März 2017

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